Die Visionen von Krasnaja Pachra

Von Antje Leetz |
70 Kilometer von Moskau entfernt liegt in einem Birken- und Kiefernwald die Schriftstellersiedlung Krasnaja Pachra. In sowjetischen Zeiten trafen sich dort Kollegen des Schriftstellers Wladimir Tendrjakow mit Künstlern und Wissenschaftlern, um über einee demokratische Erneuerung des Sozialismus diskutieren. Begonnen hatte es 1956, nach dem XX. Parteitag der KPdSU.
Es war wie in einem russischen Märchen: ein tief verschneiter Birken- und Kiefernwald, darin versteckt Häuser, in denen Schriftsteller unter Schreibtischlampen sitzen und schreiben. Musiker, Filmregisseure und Physiker arbeiten gleich nebenan. Die hohen Birken leuchten weiß durch die großen Fenster der Arbeitszimmer. Und der Grund und Boden ist das Geschenk eines großzügigen Landesvaters.

Dieses "Märchen" wurde nach Stalins Tod verwirklicht. Unter dem neuen Landesvater Nikita Chruschtschow: 70 Kilometer von Moskau entfernt entstand die Schriftstellersiedlung Krasnaja Pachra - zu Deutsch "Schönes Feld".

Das war nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Chruschtschow hatte am 25. Februar 1956 in einer geschlossenen Sitzung eine Geheimrede gehalten, in der er die Verbrechen Stalins entlarvte und damit eine Umwälzung auslöste. Es begann eine Zeit des geistigen Aufbruchs, die legendäre Zeit des "Tauwetters", benannt nach Ilja Ehrenburgs gleichnamigem Roman.

Zwei Augenzeugen erinnern sich - Natascha Tendrjakowa, damals Studentin der Journalistik, und Alexander Askoldow, damals Student am Moskauer Gorki-Literaturinstitut.

Natascha: "Heute, vom Blickpunkt des 21. Jahrhunderts aus gesehen, kann man sich diese Welt in Krasnaja Pachra Mitte des 20. Jahrhunderts nur schwer vorstellen."

Natascha Tendrjakowa lebte damals mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Wladimir Tendrjakow, in der gerade entstandenen Datschensiedlung.

Natascha: ""Wenn man am frühen Morgen auf den Waldweg getreten ist, dann hat man praktisch aus jedem Fenster eine Schreibmaschine klappern hören. Aus einem anderen Fenster drangen Klaviertöne, denn das war die Datscha des großen Pianisten Emil Gilels. Man ging weiter und hörte, wie Kabalewski am Klavier komponierte. Wieder einige Schritte weiter Geschrei, das beinahe wie eine Schlägerei klang. In Wirklichkeit war es ein friedliches Gespräch: Der Regisseur Eldar Rjasanow diskutierte mit seinem Co-Autor einen neuen Film.""

Natascha sitzt im Arbeitszimmer ihres Mannes im ersten Stock der Datscha, an seinem alten, verwaisten Schreibtisch. Sie schaut melancholisch aus dem Fenster und erinnert sich an die Zeit, als Krasnaja Pachra noch nicht von neureichen Russen in Besitz genommen war. Die Ein-Millionen-Dollar-Luxusvillen verdrängen den Wald immer mehr.

Natascha: "Abends füllten sich die Waldwege mit Menschen, die sich danach sehnten, endlich jemand zu sehen, den Nachbarn zu treffen, ihm zu erzählen, was man am Tag geschrieben hatte. Die Dichter lasen ihre neuesten Verse vor und bekamen gleich auf der Stelle zu hören, "das ist genial" oder "mein Gott, was für ein Blödsinn!"

Krasnaja Pachra war ein besonders fruchtbares Fleckchen Erde. Hier war in sowjetischen Zeiten ein geistiges Zentrum. Außer dem Schriftsteller Wladimir Tendrjakow wohnten in der Siedlung solche Größen der sowjetischen Kultur und Wissenschaft wie die Schriftsteller Juri Trifonow, Alexander Twardowski, der Filmregisseur Michail Romm und der Physiker Pjotr Kapiza. Hier entstanden Bücher, Filme, wissenschaftliche Traktate, Gedichte und Lieder, die in der ganzen Welt berühmt wurden. Der Film "Der gewöhnliche Faschismus" von Michail Romm war eine internationale Sensation. Kapiza erhielt den Nobelpreis für Physik und Tendrjakows Bücher wurden in der sowjetischen Öffentlichkeit heiß diskutiert und in viele andere Sprachen übersetzt.

Unter der Leselampe liegt der Kater Polosotschka. Offenbar fühlt er sich wohl zwischen den Manuskripten Wladimir Tendrjakows, die immer noch auf dem Schreibtisch liegen, obwohl er schon 1984 gestorben ist.

Natascha: "Durch den Kater erwacht der Schreibtisch wieder zu neuem Leben."

Nach Mitternacht traf man sich im Haus irgendeiner Familie von Krasnaja Pachra. Und die Streitgespräche wurden dann im Haus weitergeführt, mit einem kleinen Imbiss und einem Gläschen Wodka oder Cognac. Es wurde gelacht, gesungen und es wurden endlose Gespräche über das Schicksal unseres Landes geführt; über unsere Literatur. Jeder malte sich die Zukunft auf seine Weise aus.

Sie redeten sich die Köpfe heiß über eine demokratische Erneuerung des Sozialismus. Sie entwickelten neue Ideen und ließen sich nicht mehr den Mund verbieten. Nach den dunklen Jahren der Stalindiktatur atmeten sie auf.

Askoldow: "In der Literatur nach Stalin, in der Tauwetterzeit war Tendrjakow eine der markantesten Erscheinungen. Er verwunderte uns damals alle mit seinen offen sozialkritischen Essays. Ein Essay hieß metaphorisch "Uchaby" - "Schlaglöcher". Unser gesamtes Leben, so schrieb Tendrjakow, besteht aus diesen Schlaglöchern, aus Tragödien. Unser sowjetisches Leben nivelliert die individuelle Persönlichkeit, übt ein Diktat über die Persönlichkeit aus. Diese Essays wurden in der Zeitschrift "Nowy Mir" - "Neue Welt" - abgedruckt. Tendrjakow war damals in aller Munde."

Alexander Askoldow, Regisseur des Films "Die Kommissarin”. Er erzählt die Geschichte einer Revolutionärin im Bürgerkrieg der 20er Jahre und wurde unter Breschnew sofort verboten.

Natascha: "Hier ist ein Foto von Wladimir - da war er 18 und ist in den Krieg gezogen, ein Kind. Fast dreieinhalb Jahre hat er als einfacher Soldat gekämpft. Das ist ein eine kolossale Erfahrung. Und diesen Menschen mit seiner Erfahrung, den kannst du nicht brechen oder verändern: die Generation von 1923 - sie sind fast alle gefallen. Ganze drei Prozent sind übrig geblieben. Dieser einzigartige intellektuelle Funke, der unsere Kunst und unsere Literatur befruchtet hat, kam in der Hauptsache von diesen drei Prozent Menschen, die aus dem Krieg heimkehrten. Und diese Menschen haben das Tauwetter gemacht. Sie haben unser Land zum Atmen gebracht.

Natascha Tendrjakowa füttert die Hunde Shemma und Awwa und den Kater Polosotschka in der Küche der Datscha. Sie will mit ihrer Tochter Mascha und ihrer Enkelein Aljonuschka nach Moskau fahren. "Ihr bewacht das Haus", sagt sie lachend zu den Tieren.

Die Familie steht auf der Straße nach Moskau bereits eine Stunde im Stau. Um die Wartezeit zu überbrücken, soll Natascha singen. Mascha wünscht sich ein Lied aus der Tauwetterzeit - den Song der Journalistik-Studenten.

Ob das Studentenfolklore sei, fragt Mascha. Nein, sagt Natascha, das ist der Song der amerikanischen Journalistikstudenten - die russische Variante. Mascha wundert sich: "Ihr habt euch also in tiefsten sowjetischen Zeiten dieses amerikanische Lied als Hymne ausgesucht?" "Ja, das Lied des Feindes!", lacht Natascha. Sie und ihre Freunde haben es 1957 während der Weltjugendfestspiele in Moskau gelernt.

Die Familie fährt in das Haus der Schriftsteller zur Premiere der russisch-jüdischen Filmkomödie "Die armen Verwandten". In diesem Haus trat 1956, ganz zu Beginn des Tauwetters, Wladimir Tendrjakow auf - ein Ereignis, das Furore machte. Unter den Teilnehmern war auch Alexander Askoldow.

Askoldow: ""Er hat sich mir während der Diskussion eines wunderbaren Romans eingeprägt, der 1956 in der Zeitschrift "Nowy Mir", "Neue Welt", erschienen war: "Der Mensch lebt nicht von Brot allein" von Wladimir Dudinzew. Dieser Roman war sehr umstritten. Die Buchausgabe sollte verboten werden. Auf dieser Diskussion war ganz Moskau zugegen, das literarische Moskau. Sie fand in dem schönen Eichensaal statt. Die Menschen saßen buchstäblich auf den Kronleuchtern. Wir schlichen uns früh morgens hinein, denn wir hatten keine Einladung und versteckten uns auf der Toilette. Man wollte uns hinauswerfen, aber wir versteckten uns wieder.

Ich erinnere mich, wie Tendrjakow mit seiner eigenwilligen nordrussischen Aussprache, mit seinem verlegenen Lächeln sagte: "Die Sowjetmacht hat mich mein ganzes Leben lang gelehrt, dass wir von Feinden, von Spionen, von Oppositionellen umgeben sind. Doch wenn ich mich umschaue, habe ich noch nie einen Spion und Oppositionellen gesehen, keinen, der die Sowjetmacht stürzen will. Aber ich sehe ein erniedrigtes Volk, das wundervoll arbeiten kann, aber für seine Arbeit fast nichts bekommt. Noch nie hat mir jemand von der offiziellen Propaganda gesagt, dass ich von Bürokraten umgeben bin, von Schurken, von Mördern, von NKWD-Leuten. Dieser Roman von Wladimir Dudinzew aber erzählt, wer uns in Wirklichkeit umgibt und was wir tun müssen, um solch’ ein Leben zu überwinden."

Der Saal tobte.

Nach der Filmpremiere machen Natascha, Mascha und Aljonuschka einen Spaziergang durch Moskaus Zentrum, bevor sie wieder zurück "in den Wald" nach Krasnaja Pachra fahren. Ein Straßenmusikant legt seine ganze Seele in das Akkordeon. Die Zwölfjährige war noch nicht so oft in Moskau. Sie will unbedingt auf den Roten Platz.

Der Rote Platz ist heute eine Flaniermeile. Es gibt keine Parteiführer mehr, die das Volk zu Feiertagen hier an sich vorbeiziehen lassen, wie es Stalin, Chruschtschow und alle folgenden sowjetischen Staatsmänner taten. Noch liegt Lenin im Mausoleum. Aber keiner steht Schlange, um ihn zu sehen. Aljonuschka jedoch wüsste gern, wie die Mumie des Mannes aussieht, um die so viel Geschrei gemacht wird: soll sie im Mausoleum bleiben oder raus.

Doch die Drei setzen sich in ein Straßencafé und hören den Glocken des Kreml zu. Sie ahnen nicht, dass nicht weit von hier ein Mann wohnt, der auch viele Erinnerungen mit Wladimir Tendrjakow verbindet - Alexander Askoldow.

Askoldow: "Ich erinnere mich noch an eine andere Geschichte. Der Dichter und Chefredakteur der Literaturzeitschrift "Nowy Mir" Alexander Twardowski hatte ein wunderbares Poem über die sowjetische Bürokratie geschrieben - "Tjorkin im Jenseits". Und dieses Poem durfte nicht veröffentlicht werden. Ich weiß noch, wie Wladimir Tendrjakow durch Moskau rannte, buchstäblich rannte, denn er war ein ungestümer Mann, mit dem eigenhändig abgeschriebenen Poem "Tjorkin im Jenseits" und es allen zu lesen gab. Die Leute nahmen das Manuskript über Nacht mit nach Hause und schrieben es ebenfalls ab. Ich denke, das war die erste Erfahrung des "Samisdat" (lacht), des Selbstverlags, dessen Begründer wohl Tendrjakow war.

Askoldow: ""In diesen Jahren des Tauwetters studierte ich am Gorki-Literaturinstitut 1955 - 1958. Das waren die einzig wirklich glücklichen und frohen Jahre meines Lebens. Denn wir fühlten uns ungemein befreit. Wir lernten die Welt kennen, die Kunst, die bis dahin verboten war. Wir redeten, wir tauschten Ideen aus und lebten voller Hoffnung. Bedauerlicherweise erloschen diese Hoffnungen mit jedem Tag mehr.
Chruschtschow war, und das begreifen wir heute besonders deutlich, eine widersprüchliche Figur. Er hat den Stalinschen Personenkult beendet und sich selbst in kürzester Zeit in einen lebenden Kult verwandelt. Chruschtschows Wort war unaufschiebbares Gesetz für die sowjetische Wirtschaft, für die sowjetische Literatur, für die sowjetische Kunst."

In Krasnaja Pachra wurde nicht mehr so offenherzig gesprochen. Aber der Geist war aus der Flasche entwichen. Die Hefe des Zweifels gärte überall im Land.

Natascha, Mascha und Aljonuschka kommen heim nach Krasnaja Pachra. Im Garten werden sie von den Hunden Shemma und Awwa und dem Kater Polosotschka begrüßt. Tendrjakows alte Datscha trotzt rührend den Luxusdatschen. Aber auch sie verändert sich.

Das Haus wird umgebaut. Es geht alles drunter und drüber. Natascha kann den Text nicht finden, den sie sucht. Doch dann findet sie ihn auf dem Schreibtisch, genau dort, wohin sie ihn gelegt hat.

Es ist der Essay "Metamorphosen des Eigentums" aus dem Jahr 1969. Darin geht es um ein ökonomisches Experiment, das 1965 in Usbekistan gemacht wurde. Der Reformer Usmanow war im "Tauwetter" nach oben gekommen und 1. Sekretär des Gebietskomitees von Samarkand geworden.

"Die Kolchosbauern arbeiteten selbständig nach eigener Rechnungsführung und eigener Verantwortung. Anordnungen von oben in der früheren Form waren nicht mehr möglich. Die Bauern wussten selbst, was sie zu tun hatten - ihr könnt uns beraten, aber nicht mehr kommandieren."

Aber das festgefügte System duldete keine Reformen, die die strenge Hierarchie in Frage stellten. Usmanow wurde abgesetzt.

"Ist es nicht eine Utopie, zu schöpferischer Aktivität aufzurufen, jenen Leuten zum Trotz, die im Namen des Staates mit unumschränkter Macht ausgestattet sind? Wir wissen, dass diese Machthaber das Produkt einer spontanen Auslese des etablierten Systems sind, das Leute mit wertvollen menschlichen Eigenschaften abweist und nicht denkende, hartherzige Lakaien protegiert. Und diese Leute, die weder Verstand noch Gewissen besitzen, scheuen sich nicht, jede für sie gefährliche schöpferische Aktivität ohne jeden Skrupel gleich im Keim zu zertreten."

Der Essay "Metamorphosen des Eigentums" durfte damals nicht erscheinen. Chrustschow war längst abgesetzt. Die Zeit der Breschnjewschen Stagnation hatte begonnen. Tendrjakow stand unter strenger Aufsicht der Zensurbehörde. Alles, was er schrieb, wurde mit Misstrauen verfolgt. Da es mit der Veröffentlichung kritischer Texte zunehmend Schwierigkeiten gab, entwickelte sich ein besonderes Genre.

Natascha: "Das Vorlesen. Die Sachen, die Wladimir für die Schublade schrieb, las er seinen Freunden vor. Abends versammelten wir uns wieder in unserer Datscha. Romm las seine urkomischen Erzählungen über Chruschtschow, Trifonow seine Sachen, und Wladimir las seine ungedruckten Erzählungen."

Als die Kulturpolitik wieder freier wurde, bekam Tendrjakow ein größeres Auditorium.

Natascha: "Die Leninbibliothek klopfte an Wladimirs Tür. Er war so dreist und las dort "Paranja". Das ist seine berühmte Erzählung über eine Verrückte, die sich einbildet, Stalins Braut zu sein. Wenn sie durch die Stadt geht und mit dem Finger auf jemanden zeigt und sagt: 'Messer! Die Messer werden geschärft! Der da will Stalin töten!', dann verhaftet der NKWD diese Leute und sie verschwinden für immer. Und diese Erzählung packte Wladimir ein und las sie vor dem Riesenauditorium der Leninbibliothek.

Ich stand hinter der Bühne, hinter dem Vorhang, und sah, was mit den Organisatorinnen dieses Abends geschah, mit diesen lieben, reizenden Damen, die die Leninbibliothek leiteten. Sie schluckten Herztabletten, eine ging überhaupt schweißgebadet raus und wurde in einem Nebenraum medizinisch versorgt. Ich sagte später zu ihm: 'Wolodja, was fällt dir ein, du bringst die Frauen doch in Schwierigkeiten!' Darauf er: 'Wieso? Ich habe das vorgelesen, was ich geschrieben habe!'"

In der Zeit der Stagnation unter Breschnjew nahm Tendrjakow nicht mehr am offiziellen gesellschaftlichen Leben teil. Obwohl er immer noch Mitglied der Kommunistischen Partei war.

Seine Ablehnung alles Staatlichen gipfelte in tragikomischen Handlungen.

Natascha: "Zu seinem 50. Geburtstag sollte er einen Orden bekommen, aber er wollte ihn um nichts auf der Welt im Kreml entgegennehmen. Drei oder vier Mal wurde er aus dem ZK der Partei angerufen: 'Kommen Sie und nehmen Sie den Orden entgegen.' - 'Ich will nicht!' Da sagten sie: 'Entschuldige mal, was machst du da? Willst du, dass das ZK u n s entlässt, wenn du nicht kommst? Komm und nimm den Orden entgegen!' Da fuhr er los. Das habe ich noch miterlebt. Und wie es weiterging, erzählte mir jemand später: Er kam in den Kreml, erhielt den Orden. Das Ritual ist so, dass alle Ordensempfänger im großen Georgssaal sitzen. Das ist ein riesiges Ereignis. Die Namen werden aufgerufen. Jeder geht einzeln nach vorn, bedankt sich bei der Partei, bedankt sich bei der Regierung, sagt, dass er der Sowjetunion treu und ergeben dient, setzt sich dann wieder auf seinen Platz, und der Saal klatscht Beifall ... .

So war es bei den 'Helden der Sowjetunion', bei den 'Helden der Arbeit'. Und nun wurde mir folgendes erzählt von Leuten, die bei der Ordensverleihung dabei waren: Wladimir wird nach vorn gerufen, nimmt den Orden, dreht sich um, geht an den Reihen vorbei zur Tür und verlässt den Saal. Und der mir das erzählte, Eldar Rjasanow, sagte: 'Ich saß da und dachte bei mir: 'Wie? Tendrjakow ist raus und ich sitz immer noch hier. Ich gehe jetzt auch!’ Da war es aus mit der Disziplin."

Wladimir Tendrjakow wollte nie nach den Regeln spielen, die ihm das System vorschrieb.

Er fuhr nur noch selten nach Moskau. Schon am frühen Morgen saß er in Krasnaja Pachra an seinem Schreibtisch und arbeitete.

Natascha: "Er hat immer nach kleinsten Anzeichen in Menschen gesucht, auf die man sich stützen könnte. Die die Samen einer zukünftigen Entwicklung sein könnten. Und wenn er solche Menschen fand, war das für ihn ein Festtag der Seele. Zum Beispiel die "Kalugaer Variante", als in den Grenzen eines Gebiets, eines Werkes, des Turbinenwerkes in Kaluga, ein kluger Leiter versuchte, die Arbeiter soviel wie möglich an der Führung des Betriebes zu beteiligen. Wladimir fuhr auch nach Usbekisten zu Usmanow. Wenn er ein Wirtschaftssystem fand, in dem der Mensch nicht erniedrigt, nicht gekränkt wurde, kein Schräubchen war, kein Sklave der Arbeit, dann war er glücklich. Er wollte wissen, wie ein Mensch entstehen kann, der sich nicht nur für seine eigene Haut interessiert, sondern auch für die Menschen um ihn herum. Dass das Leben vernünftig geregelt sei von unten bis oben, das war sein Ideal."

Aljonuschka hat eine Kassette in den Videorecorder geschoben. Ihre Großmutter beherrscht die moderne Technik nicht. Aljonuschka bleibt vor dem Bildschirm stehen und schaut sich neugierig den Film an - eine Lesung Wladimir Tendrjakows aus dem Jahr 1980. Das war lange vor ihrer Geburt. Ihren Großvater hat sie nie kennen gelernt.

Wladimir Tendrjakow: "Wie kann ein Schriftsteller überhaupt konfliktlos schreiben? Mein Wunsch ist es - und ich hoffe, es gelingt mir -, dass der Mensch, wenn er mein Werk gelesen hat, nicht alles annimmt, was ich schreibe, sondern dass ich ihn zum Nachdenken anrege."

Der Film durfte damals nicht im sowjetischen Fernsehen gesendet werden. Aljonuschka zieht sich leise in ihr Zimmer zurück…

...und hört russischen Rep.

Natascha Pawlowa: "Wir feuern auf allen Kanälen... Und das ist erst der Anfang.
Deine Saiten haben sie zerrissen. Deine Seele bloß gestellt. Land der Sowjets Sowjetischer Champagner... Das Land wurde uns überliefert in Vorurteilen und Schablonen. Doch was wir brauchen, ist Liebe. Liebe rettet die Welt. Immer und immer wieder..."