Die virtuelle Fernsehgemeinschaft

Von Dirk Asendorpf · 16.04.2009
Früher musste man sich mit drei Fernsehprogrammen begnügen. Heutzutage bietet das Internet eine schier unüberschaubare Menge an Angeboten. Damit dennoch ein kollektives Seherlebnis entsteht, gibt es eine neue Technik, mit deren Hilfe sich vereinzelte User zu virtuellen Fernsehgemeinden zusammenschließen können.
Balcony-TV, ein Fernsehsender, den es nur im Internet zu sehen gibt: Die Idee stammt aus Dublin und ist denkbar einfach: Ein kleiner Balkon direkt über der Hamburger Reeperbahn wird zur Bühne für durchreisende Künstler. Jeden Tag tritt eine andere Rock- oder Pop-Band, ein Liedermacher, ein Comedian oder eine Bauchtanzgruppe auf und wird rund fünf Minuten lang gefilmt. Über 1500 Videos lagern bereits im Online-Archiv.

"Es gibt keine andere Branche, die derzeit so groß floriert wie die Web-TV und IP-TV-Branche."

Alexander Schulz-Heyn ist der Vorstandsvorsitzende des Deutschen IP-TV-Verbandes. IP-TV ist die gängige Abkürzung für alle bewegten Bilder, die in Form von Datenpaketen nach dem Internet-Protocol, kurz IP, ins Haus kommen.

"Wenn man die Anzahl der Sender sich anschaut, haben wir derzeit circa 1000 deutschsprachige Sender. Vor einem Jahr waren es erst 500, wir verdoppeln jedes Jahr."

Schon heute verbringen die unter 25-Jährigen deutlich weniger Zeit vor dem Fernseher als vor dem Computer. Dort gucken sie vor allem Videoclips. 13 Millionen Nutzer zählt allein der Google-Ableger YouTube jeden Monat in Deutschland, weltweit sollen es über 300 Millionen sein. Auch wenn die Jugendlichen Web-TV meistens alleine vor ihrem PC reinziehen, wollen sie das Erlebnis trotzdem mit Freunden teilen.

"Das geht zum Beispiel bei Smeet. Ich log mich mit meinem Gratispasswort ein und finde jetzt meine Buddys, meine Freunde, in virtuellen Welten. Das kennen wir bereits bei Second Life. Gemeinsam kann man jetzt YouTube-Clips anschauen, man kann mit Freunden ausgehen, ins Kino gehen, es ist letztendlich ein virtuelles Public Viewing."

Systematisch hat Pancrazio Auteri, der Chef einer italienischen Entwicklungsfirma, in 120 Testhaushalten untersucht, wie die Google-Generation entscheidet, was sie sich im Netz anschaut. Am wichtigsten waren die persönlichen Empfehlungen von Freunden und anderen Usern.

"Interessant ist, dass das soziale Netzwerk beim Abernten des Internets zu besseren Ergebnissen führt als ein automatisches System. Man geht auf YouTube und öffnet die Favoritenliste seiner Freunde. Dort findet man etwas Interessantes und fügt es in die eigene Favoritenliste ein. Und diese Liste öffnet wieder jemand anderes. Also ein gemeinschaftliches Auswahlverfahren für das gewaltige Angebot im Netz."

Pancrazio Auteri hat das nicht nur beobachtet, er hat auch gleich eine Technik entwickelt, die das gemeinsam zusammengetragene Web-TV-Angebot vom Windows-Computer auf den großen Fernsehbildschirm im Wohnzimmer transportiert. TV-Blob heißt seine Mailänder Firma, die das dafür nötige Hard- und Softwarepaket für rund 300 Euro anbietet. Ein ähnliches Angebot gibt es unter dem Namen "Apple-TV" auch für Mac-Nutzer.

Jede Menge Multimedia-Dateien hat Auteri auf seinem PC gesammelt, erzählt er in der – natürlich als Videoclip produzierten – Bedienungsanleitung. Persönliche Fotos, Musik und Videos; außerdem alles, was er beim Surfen im Internet interessant fand und was ihm von anderen empfohlen wurde. Dazu das Verzeichnis seiner Freunde in den sozialen Netzwerken wie zum Beispiel Facebook oder MSN. Wird der PC nun über das drahtlose Hausnetz mit der sogenannten Blobbox auf dem Fernseher verbunden, können all diese Dateien ganz bequem mit der normalen Fernbedienung im Wohnzimmer abgerufen werden.

Noch funktioniert das selten reibungslos. Mal ruckelt die Breitbandverbindung ins Internet, mal scheitert die Software an einem weniger üblichen Dateiformat. Die Technik ist mitten in der Entwicklungsphase. Das gleiche gilt für die Geschäftsmodelle. Noch werden die meisten Video-Angebote im Netz von unbezahlten Enthusiasten produziert oder aus eigentlich urheberrechtlich geschütztem Material einfach herauskopiert. Auf Dauer, davon geht auch der IP-TV-Verband aus, muss sich das ändern.

"Es gibt drei große Varianten der Finanzierung. Das eine ist Werbung. Klassische Werbung vor und nach einem Beitrag. Zum anderen muss man auch feststellen, dass wir Bezahl-Content haben, zum Beispiel die Deutschen Philharmoniker, ein sehr schönes Beispiel für ein Web-TV-Angebot. Hier muss ich für jeden Konzertbesuch im virtuellen Raum bezahlen. Aber wir stellen auch mehr und mehr fest, dass Business-TV-Anbieter auf den Markt kommen, also zum Beispiel Mercedes-Benz-TV oder Audi-TV, die ganze Sendungen um ihr Produkt herum bauen und so eine digitale Welt aufbauen."

Tatsächlich tauchen in den Trefferlisten von YouTube und Co immer häufiger hoch professionell erzeugte Reklamefilme auf. Die große Zeit des charmanten Wildwuchses scheint im Web-TV dem Ende entgegen zu gehen.