"Die Vertrauenskrise ist tiefgreifend"

Alois Glück im Gespräch mit Ute Welty · 22.12.2010
Als Folge der aktuellen Debatte um Missbräuche in der Kirche seien viele Gläubige resigniert, sagt der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Alois Glück. Aber die "Schockwirkung des Missbrauchs" habe auch dazu geführt, dass sich die Kirche den Fragen nach dem eigenen Selbstverständnis und nach Erneuerung gestellt habe.
Ute Welty: Es war kein gutes Jahr für die katholische Kirche – die Diskussionen um sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen hat zu einer regelrechten Austrittswelle geführt. Im Bistum Augsburg zum Beispiel sind mehr als 11.000 Menschen ausgetreten, das sind fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Nicht umsonst hat der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken bereits im April von einer tiefgreifenden Krise der Kirche gesprochen. Guten Morgen, Alois Glück!

Alois Glück: Guten Morgen nach Berlin!

Welty: Das Zitat von April ist Ihnen bestimmt noch gut im Gedächtnis. Wie fällt Ihre Zustandsbeschreibung heute aus?

Glück: Die Vertrauenskrise ist tiefgreifend, auf der anderen Seite ist es so, dass ich zum Ende des Jahres auch doch Anzeichen dafür sehe, dass aus der Krise Neues, Positives wächst. Es hat insbesondere in dieser Schockwirkung des Missbrauchs dann zu einer wichtigen Veränderung geführt dergestalt, dass dann die Opfer, die Menschen und der einzelne Mensch in den Mittelpunkt gerückt wurde, und nicht mehr eine falsch verstandene Solidarität oder ein falsch verstandener Schutz in der Kirche. Und das könnte wegweisend werden für die weitere Entwicklung. Aber es ist noch ganz offen, ob es gelingt, Vertrauen wieder entsprechend zurückzugewinnen.

Welty: Wenn Sie sagen, es ist offen, ob es gelingt, Vertrauen zurückzugewinnen: Finden Sie denn, die Kirche hat die richtigen Gegenmaßnahmen ergriffen, und vor allen Dingen, finden Sie, die Kirche hat die richtigen Gegenmaßnahmen schnell genug ergriffen?

Glück: Nun könnte man natürlich zunächst sagen, die Kirche hat weit mehr wie jede andere gesellschaftliche Gruppe darauf reagiert, und es ist ja leider Gottes so, dass der Missbrauch nicht nur speziell kirchliches Thema ist. Auf der anderen Seite: Es muss sich jetzt natürlich in der Praxis dann zeigen, in der Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen, im konkreten Umgang auch mit den einzelnen Opfern, inwieweit dieser Bereich gut bewältigt wird. Es ist ja auch nicht damit getan, nur gewissermaßen das Thema Missbrauch jetzt richtig einzuordnen und zu behandeln. Es begann ja sehr früh schon damit verbunden schon die Frage: Es geht um eine Erneuerung der Kirche, eine umfassende Veränderung und Erneuerung, und hier geht es um Selbstverständnis der Kirche und um viele andere Fragen. Hier sind wir noch mehr am Anfang.

Welty: Können Sie einen Begriff wie Selbstverständnis konkretisieren?

Glück: Lassen Sie es mich so sagen: Ich sehe uns gegenwärtig, also die Kirche gewissermaßen an einer Weggabelung mit drei Abzweigungen. Auf der einen steht Resignation, Rückzug, das kann es nicht sein. Aber Resignation, ja, Frustration ist leider schon weit verbreitet.

Das Zweite, da gibt es eine durchaus nicht kleine Strömung, die sagt, ach ja, wenn wir weniger werden aber dafür gewissermaßen die echt Gläubigen, dann ist es auch gut. Meine Antwort darauf ist: Das ist ein Verrat am Missionsauftrag der Kirche, an ihrem eigentlichen Auftrag, dem Menschen in der jeweiligen Zeit und in den unterschiedlichsten Lebenssituationen und Kulturen das Evangelium zugänglich zu machen.

Der dritte Wegweiser heißt: einen neuen Aufbruch wagen, zu den Menschen gehen. Für mich ist eine wichtige Orientierung eine Formulierung von Bischof Wanke aus Erfurt, der gesagt hat: Wir brauchen eine Vision, ein Leitbild für die Kirche. Und er beschreibt das so: eine dem Menschen dienende Kirche.

Welty: Soweit die theoretische Überlegung, aber wie wirkt sich das in der Praxis aus? Denn de facto können Sie sich eine solche Austrittswelle doch eigentlich gar nicht leisten, weder finanziell, noch personell beispielsweise, wenn Sie auf den demografischen Wandel und den anstehenden Priestermangel schauen.

Glück: Ja, in sich ist es natürlich eine komplexe Entwicklung, eine Entwicklung, wo man ja nicht leichtfertig jetzt auf jemanden verzichten kann und darf, aber das ja auch nicht einfach ausschließen kann. Es gibt ja nicht einfach eine organisatorische Antwort darauf. Und deswegen ist aber die Grundfrage – und zwar weniger von der Zahl her – nicht, weil man es sich nicht leisten kann, weil man dann weniger Steuergeld hat, Kirchensteuer. Das wäre eine für die Kirche völlig angemessene Sichtweise, obwohl es auch nicht ohne Bedeutung ist im Hinblick auf die Handlungsspielräume. Nein, die eigentliche Frage ist: Da ist doch die Aufgabe, das Evangelium zu vermitteln – warum gelingt das so wenig?

Welty: Warum gelingt es denn so wenig?

Glück: Ja, einerseits ist natürlich Glaube etwas, was man nicht einfach vermitteln kann wie eine Erbschaft und wie ein Vermögen beispielsweise. Und zum anderen ist natürlich schon zu fragen, ob die Sprache noch stimmt, ob das Erscheinungsbild hinderlich ist, wie Personen auftreten, wie Kirche als Ganzes erlebt wird und was alles dazugehört. Das heißt, selbstkritische Reflexion ist auch notwendig.

Andererseits: Es gibt in dieser Kirche viele großartige Leistungen. Wir dürfen auch den Blick nicht verengen nur auf die Problemstellen. Auf dem positiven Konto steht noch mehr wie auf dem negativen.
Welty: Auf der positiven Haben-Seite stehen auf jeden Fall die Frauen, die in vielen Orten, vor allen Dingen in den ländlichen Gemeinden, die Gemeinde schon zusammenhalten, ohne aber die Chance zu haben, jemals ein Amt bekleiden zu können. Müsste die Kirche da nicht reagieren?

Glück: Auf der Haben-Seite stehen auch viele andere Dinge, im sozialen Engagement, in der Zuwendung zu den Menschen, aber ganz gewiss auch die Frauen. Konkret steht ja im Raum die Diskussion um das Diakonat für die Frau, damit eine zugewiesene, tragende Rolle. Das sind Themen der nächsten Zeit, über die zu beraten ist und die hoffentlich zu Ergebnissen führen, denn wenn wir zu keinerlei Ergebnissen kämen, nur diskutieren würden, dann kommt die nächste Frustwelle und Austrittswelle, und das ist dann noch weit mehr als das, was wir jetzt erlebt haben.

Welty: Alois Glück, Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Glück: Ich danke auch!