Die Versessenheit auf Strand und Samba

27.05.2013
Anhand von 16 Frauengeschichten entwirft der Brasilianer Rafael Cardoso ein vielschichtiges Bild der sozialen Realität Brasiliens - ein literarisches Mosaik in leichtfüßiger und sprunghafter Erzählweise.
Vielleicht ist die brasilianische Metropole Rio de Janeiro auch eine Frau. Lasziv, atemberaubend verführerisch, ausgestattet mit spektakulären Kurven, ähnelt sie den Strandschönheiten von Ipanema und besitzt zweifellos mehr weibliche als männliche Eigenschaften. Glaubt man den Protagonistinnen in Rafael Cardosos vielstimmigem Stadt-Porträt "Sechzehn Frauen", greifen die Cariocas häufiger zu Vergleichen dieser Art - dass eine Geliebte dem kosmopolitischen Badeort gleicht, scheint ein besonders beliebtes Kompliment zu sein.

Cardoso, 1964 in Rio de Janeiro geboren und derzeit in Berlin beheimatet, liefert mit seinem Mosaik, in dem sechzehn verschiedene Bewohnerinnen von Rio abwechselnd im Mittelpunkt stehen, nicht nur ein weit gespanntes Panorama der Stadt, sondern fertigt auch ein vielschichtiges Bild der sozialen Realität Brasiliens an. Es umfasst die wohlhabende Südstadt mit ihren bewachten Wohneinheiten ebenso wie die Strände der Copacabana, die Favelas auf den Hügeln, den Autobahnring, abgerissene Hotels und die alten Straßen des Zentrums.

Sechzehn Mal wechselt Cardoso also die Perspektive und legt in sich geschlossene Geschichten vor, die aber lose miteinander zusammenhängen. Seine Heldinnen sind zwischen sechs und dreiundneunzig Jahre alt; immer wieder kreuzen sich ihre Wege, kommen überraschende Querverbindungen zum Vorschein. Das Kompositionsprinzip gehört seit John Dos Passos und Sherwood Anderson zum Standardrepertoire der Moderne und fand in der jüngeren deutschsprachigen Literatur in Erzählungsbänden von Daniel Kehlmann, Eva Menasse und Silke Scheuermann Anwendung.

Dem Leser ermöglicht es, ein und dieselbe Figur aus verschiedenen Blickwinkeln wahrzunehmen. Da gibt es die verzagte Zahnarzthelferin Renata, die unter der Untreue ihres langweiligen Ehemannes leidet, in der Mittagspause einen hübschen, jungen Mann aufgabelt und einen Seitensprung wagt. Zu ihrem großen Glück tritt die lang ersehnte Schwangerschaft ein – kurzentschlossen jubelt sie das Kind dem abtrünnigen Gatten unter.

Ivete, Anfang 60, hat außer Schönheits-OPs, harten Drinks und ihrem vergötterten Sohn Rafael eigentlich keinen Lebensinhalt. Überhaupt, dieser Rafael: Der abgebrochene Jurastudent verdingt sich mittlerweile als DJ und reißt von morgens bis abends Frauen auf – auch die besagte Zahnarzthelferin gehört dazu. Dann ergreift die Tochter einer weiteren Eroberung von Rafael das Wort: Die sechsjährige Jade verlässt auf dem Motorrad von Rafael zum ersten Mal die Favela. Rafaels offizielle Freundin Ana ist die einzige wirkliche Rio-Hasserin. Sie stammt aus Saõ Paulo, findet die Cariocas oberflächlich und die Versessenheit auf Strand und Samba unerträglich.

Die Konstruktion von "Sechzehn Frauen" hat man rasch durchschaut, und die Tonlage der Kapitel ist trotz der verschiedenen Schicksale recht ähnlich. Dennoch gelingt es Cardoso, das gegenwartsversessene Lebensgefühl seiner Heimatstadt in der leichtfüßigen, sprunghaften Erzählweise zu spiegeln. Nebenbei fertigt er eine Sozialstudie an, die es in sich hat. Reichtum, Drogenhandel und brutaler Absturz liegen nahe beieinander.

Besprochen von Maike Albath

Rafael Cardoso: Sechzehn Frauen. Geschichten aus Rio
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Peter Kultzen
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
318 Seiten, 19, 99 Euro
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