Die Verrohung des Geschmacks

Von Uwe Bork · 12.09.2005
Das müssen noch Zeiten gewesen sein! Damals, als George Bryan Brummell, von Freund wie Feind auch Beau – das heißt: der Schöne – Brummell genannt, im England des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts seinen ganz persönlichen Stil pflegte und prägte. Nach eigenen Angaben benötigte er am Morgen – aber was war für ihn schon der Morgen? – volle fünf Stunden, um sich anzuziehen und sich sukzessive in einen Zustand zu versetzen, der es ihm erlaubte, sich ungeniert der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Seine Stiefel, so wird berichtet, pflegte er wegen des ganz besonderen Glanzes nur mit Champagner zu polieren, und seine Handschuhe bezog er bei zwei unterschiedlichen Handschuhmachern: Der eine verstand sich besonders gut auf die Umhüllung der Daumen, der andere auf den Rest.

Und heute? Nicht nur, dass selbst alternde Herrenfahrer mittlerweile unbehandschuht ans Volant greifen, wer tagaus tagein in überdimensionierten Sportschuhen von der Größe kleinerer Rettungsboote auftritt, braucht sich um passende Poliermittel für seine Fußbekleidung einfach keine Sorgen mehr zu machen. Das, was man früher als den Stil eines Gentlemans bezeichnete, scheint im Gebaren nicht nur unserer nachwachsenden Generation ebenso verloren gegangen zu sein wie verbale Eleganz bei den Debatten unserer Politiker. Auf beiden Gebieten bevorzugt man inzwischen eher das Grobe, den rustikalen Holzschnitt statt der feinen Federzeichnung.

Und es sind ja nicht nur die Jungen, die in ihrem Outfit und Auftreten häufig einen etwas anderen Stil pflegen. Was einst vornehmlich den Helden der christlichen Seefahrt ihren gefährlich-exotischen Reiz verlieh, ist mittlerweile tief in die bürgerliche Gesellschaft eingedrungen. Inzwischen tragen selbst solide Banker Tattoos und veritable baden-württembergische Minister zeigen sich mit einem Brilli im Ohr. Eine Wortwahl, für die vor gar nicht so langer Zeit pädagogisch hilflose Eltern ihren unbotmäßigen Kindern noch den Mund mit Seife auswuschen, gehört inzwischen zum nicht mehr durch schamhafte Pieptöne kaschierten Vokabular vieler deutscher Rapsongs. Und wo einst noch ausgefeilte Partituren und originelle Einfälle nötig waren, reicht es heute, auf dem Heimcomputer die Klingeltöne seines Handys etwas abzuwandeln, um einen internationalen Hit zu landen und seine eigenen wie die Kassen der von Schwarzbrennern gebeutelten Musikindustrie wieder zu füllen.

Zwei Elemente kommen in dieser Entwicklung zum Ausdruck. Zum einen ist es unbezweifelbar, dass jegliche elitäre Hochkultur stets von Verflachung und Vereinfachung bedroht ist: 'E' ist tot, es lebe das uneingeschränkte 'U'! Was Künstler, Kulturkonsumenten und Kulturmanager aber auch wiederum nicht mit allzu großen Krokodilstränen beweinen sollten, führen die zu Boden stürzenden Bruchstücke zumindest mancher der bröckelnden Hochbauten des Intellekts doch gleichzeitig dazu, dass sich Kultur demokratisiert, dass sich die belastbare Basis unserer Zivilisation verbreitert.

Bedenklicher muss da bei weitem das andere Element erscheinen, das vor allem mit solchen Phänomenen wie gewaltverherrlichendem Gangsta-Rap, einer die heimlichen Herrscher amerikanischer Ghettos mystifizierenden Mode sowie einer ebenso verrohten wie verrohenden Sprache einher geht. Offensichtlich hat sich die Kompassnadel der gesellschaftlichen Orientierung um ein paar Grad gedreht: Sie zeigt jetzt nicht mehr zentral auf den für Generationen unbestrittenen Zenit zeitloser Heroen aus Politik und Kultur. Für einen nicht zu vernachlässigenden Anteil gerade, aber nicht nur junger Menschen weist sie stattdessen auf Vorbilder, denen es um persönliche Bereicherung statt um Fortschritt für alle geht. Die lieber ihren privaten Ego-Trip zelebrieren statt auch nur einen Anflug von Altruismus und Nächstenliebe in ihrem Leben zuzulassen.

Wundern müssen wir uns über diese Fehlorientierung nicht unbedingt. Solange sich unsere Wertschätzung eines Menschen mehr an dessen Verdienst als an dessen Verdiensten orientiert, verschieben wir unsere Werteskala ebenfalls deutlich in Richtung auf den rein materiellen Erfolg. Der über Generationen tradierten Aussage unseres Volksmundes, dass Geld eben nicht glücklich mache, entziehen wir damit jegliche Glaubwürdigkeit. Geld, so lernen vielmehr unsere Kinder, ist die Grundlage von allem, und wenn man es so cool verdienen kann wie ein Gangsta-Rapper, ein Hard-Core-Hip-Hopper oder ein Ghetto-Dealer: umso besser.

Nun mag ein Dandy wie Beau Brummell heute wie damals nicht unbedingt als allgemeines Vorbild taugen, weder in Geschmacksfragen noch in Bezug auf seine gesellschaftliche oder politische Orientierung. Diejenigen, die mit ihren Tattoos, ihrem Brilli im Ohr und ihrer Auswahl an lockeren Sprüchen heute stilprägend geworden sind, tun es aber noch viel weniger.

Wer als Vorbild dienen will, dem muss es schon um etwas mehr gehen als nur um die nächste Million, ganz gleichgültig, ob sie nun aus Geschäften am Straßenrand oder auf dem Börsenparkett stammt. In dem Fall ist es dann auch egal, ob jemand Goldkettchen und Baggy-Pants oder Einstecktuch und Zweireiher trägt...


Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist Autor zahlreicher Glossen und mehrerer Bücher, in denen er sich humorvoll-ironisch mit zwischenmenschlichen Problemen auseinander setzt.