Die Vermessung des Kosmos

30.10.2011
Am 6. Juni 2012 findet ein astronomisches Ereignis statt, das niemand, der heute auf der Erde lebt, je wieder zu Gesicht bekommen wird: Unser Nachbarplanet Venus zieht genau vor der Sonne entlang. Erst in 105 Jahren hinterlässt die Venus, die viele als Abendstern kennen, wieder ihre Spur auf der Sonnenscheibe. Gudrun Bucher hat dies zum Anlass genommen, von der abenteuerlichen Erforschung des Venustransits zu erzählen.
Bevor es auf große Fahrt geht, liefert die Autorin in den ersten drei Kapiteln eine manchmal etwas holprige Schnelleinführung in die Astronomie. Man erfährt unter anderem etwas über die Bedingungen auf Merkur und Venus, über die Bahnen der Planeten im Sonnensystem, die Entwicklung des Weltbildes und die Erfindung des Fernrohrs. Ab dem vierten Kapitel wird es wirklich interessant: Dann geht es um die Venustransite, die vor allem deswegen so viel Beachtung fanden, weil sich mit ihnen die Entfernung der Erde von der Sonne bestimmen lässt. Der Abstand Erde-Sonne ist eine Art Urmeter des Weltalls, der noch bei der Vermessung von Milliarden Lichtjahren entfernten Galaxien eine Rolle spielt.

Endlich die Größe des Planetensystems und damit des ganzen Kosmos genau zu vermessen, war der Antrieb für Dutzende von Astronomen und Abenteurern, die sich per Schiff oder Kutsche oft auf riskante Reisen rund um die Erde begeben haben. Denn viele der historischen Venustransite waren von Europa aus nicht zu sehen. Die Schilderungen einiger Expeditionen sind ein großartiger Lesespaß. So war ein Venustransit der Anlass der ersten Weltreise von Captain Cook. Der später berühmte Entdecker sollte den englischen Astronomen Charles Green nach Tahiti bringen. Von dort haben beide im Jahr 1769 verfolgt, wie die Venus vor der Sonnenscheibe entlang gezogen ist.

Gudrun Bucher, Ethnologin und Historikerin, hat mit großem Fleiß viele Quellen gesichtet. Sie beschreibt einige Triumphe und Tragödien rund um den Venustransit ebenso packend wie enorm detailgenau. Beim Lesen leidet man mit dem elenden Guillaume Le Gentil, der mehr als ein Jahrzehnt lang auf Reisen war, um die beiden Venustransite 1761 und 1769 zu verfolgen. Aber er scheiterte beide Male: Zuerst weil die politische Großwetterlage ein an Land gehen in Indien verhinderte, dann weil just am entscheidenden Tage Wolken die Sicht versperrten. Man trauert mit Jean-Baptiste Chappe, der 1769 im fernen Baja California zwar noch die genauesten Messungen weltweit anstellte, aber nur Wochen später von einer Typhus-Erkrankung dahingerafft wurde - welch ein Einsatz für die Wissenschaft!

Bei den astronomischen Aspekten der Unternehmungen beschränkt sich Gudrun Bucher auf das Nötigste, sodass auch völlige Laien problemlos folgen können. Ein paar Schwarz-Weiß-Abbildungen und Grafiken ergänzen den Text. Zum Schluss erklärt die Autorin, dass Venustransite seit fast einhundert Jahren wissenschaftlich unbedeutend sind. Die Entfernung Erde-Sonne, die im Mittel knapp 150 Millionen Kilometer beträgt und für deren Bestimmung sich so viele Menschen in Gefahr begeben haben, ist seit langem auf ein paar Meter genau bekannt.

Doch das spielt für den Leser keine Rolle. Längst hat einen die Faszination des seltensten regelmäßigen Himmelsschauspiels gepackt. Gudrun Buchers "Spur des Abendsterns" ist zwar keine Anleitung zur eigenen Beobachtung; denn die Informationen zum Venustransit im Juni 2012 sind eher spärlich. Aber sie hat ein sehr unterhaltsames Werk verfasst, das einen bestens auf das historische Ereignis im nächsten Jahr einstimmt - und jeden anspornt, es Cook, Chappe, Le Gentil und allen anderen nachzumachen.

Besprochen von Dirk Lorenzen

Gudrun Bucher: Die Spur des Abendsterns. Die abenteuerliche Erforschung des Venustransits
WBG, Darmstadt 2011
215 Seiten, 29,90 Euro