Die Vermarktung der Tradition

Von Renate Eichmeier · 18.08.2010
In China leben über 50 offiziell anerkannte Ethnien, die meisten in schwer zugänglichen Gebieten und Bergregionen. Manche der Minderheiten wie die Bai in der südchinesischen Provinz Yunnan vermarkten sich mit Hilfe der Regierung selbst und machen sich und ihre Traditionen zur Touristenattraktion.
Shirley: "Herzlich willkommen in Dali. Die Bevölkerung im Großraum Dali beträgt drei Millionen zweihunderttausend. Es gibt hier 13 verschiedene ethnische Gruppen. Ich gehöre zur Bai-Minderheit: B – a – i, das bedeutet weiß. Wir mögen die weiße Farbe und benutzen sie viel in unserer traditionellen Kleidung. Dabei bin ich selbst ein ziemlich dunkler Typ. Wir leben ja auf einer Höhe von zweitausend Metern, wo die Sonne viel Kraft hat. Deshalb sind wir Bai ziemlich dunkel."

Shirley ist Touristenführerin. Heute geleitet sie ein holländisches Ehepaar durch ein buddhistisches Kloster mit seinen zahlreichen Tempeln und Pavillons. Es ist später Vormittag, zahlreiche Gruppen drängen sich vor den wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Shirley trägt in Anlehnung an die Baitradition eine weiße Hose und rote Jacke, beides mit rosa Blumen bestickt. Sie steht vor einem der Tempel mitten auf dem fast 90 Hektar großen Klostergelände. Über die hellroten und im chinesischen Stil geschwungenen Dächer der Anlage blicken die Touristen Aussicht auf die vor ihnen liegende Ebene.

Sie ist dicht bebaut. Weißgetüncht leuchten zwischen dem Braun-Grün der Felder Häuser auf, die zu den Dörfern und Vororten von Dali gehören. Rechter Hand dann das Häusermeer der Stadt selbst. Dali war immer das Zentrum der Bai und ist es auch heute noch. Die 1,8 Millionen Bai leben zum großen Teil auf einem zweitausend Meter hoch gelegenen Plateau zwischen dem Erhai-See und den bis zu viertausend Meter hochragenden Ausläufern des Himalajas.

Shirley: "Die meisten von uns sind Buddhisten. Wir leben hier zwischen Tibet im Nordwesten und Burma, Laos und Thailand im Südosten. Überall dort sind die Menschen Buddhisten."

Jahrhunderte lang führten die Handelswege über Dali, die Südostasien mit Tibet und Nepal verbanden. Sie verhalfen den Bai gepaart mit dem natürlichen Reichtum der Region zu Wohlstand. Das milde Klima und der fruchtbare Boden ermöglichen eine intensive Landwirtschaft mit zwei Ernten im Jahr. Entlang der Handelswege haben sich Menschen und Kulturen gemischt, sodass neben den Bai eine bunte Vielfalt verschiedener Ethnien lebt mit eigenen Sprachen und Traditionen.

Shirley: "Es gibt Moslems hier, die Yi und die kleine Gruppe Naxi, wir haben die Dai, die Wa – insgesamt sind es 13 Gruppen. Wir Bai haben nur eine gesprochene Sprache, in der wir uns zuhause unterhalten, aber keine eigene Schrift."

Staatliche Gelder in Höhe von umgerechnet 18 Millionen Euro sind in den Wiederaufbau der Klosteranlage geflossen. Insgesamt elf Tempel mit Pavillons und Nebengebäuden wurden mittels historischer Pläne rekonstruiert. Original sind hier nur die drei Pagoden.

Der Mahavira Tempel besteht wie alle buddhistischen Tempel aus einer großen Halle. Der vordere Teil ist offen, die Rückseite besteht aus einem raumfüllenden Altar. Zwei junge Mönche sitzen mit Gebetsbüchern davor.

Einer von ihnen spielt während der Gesänge mit seinem Handy, der andere gähnt hin und wieder. Vereinzelt knien Besucher mit gefalteten Händen auf den am Boden liegenden Kissen. Die Menschen beten für die Erfüllung konkreter Wünsche, erklärt Shirley. Reichtum und Wohlstand, ein guter Arbeitsplatz, Gesundheit oder auch Fruchtbarkeit. Für die Frauen der Bai ist das besonders wichtig. Denn als Angehörige einer Minderheit sind die Bai-Familien von der Ein-Kind-Politik ausgenommen und dürfen zwei Kinder bekommen.

Draußen drängen sich die Besucher, einige Ausländer, in erster Linie aber chinesische Touristengruppen.

Mit der touristischen Vermarktung der Minderheitenkulturen versucht die chinesische Regierung, der Provinz Yunnan zu einem wirtschaftlichen Aufschwung zu verhelfen. In Dali haben sich die Investitionen gelohnt. Die Touristen bleiben zwei bis drei Tage, wohnen in einem der modernen Hotels in der Neustadt und absolvieren ein Standardbesichtigungsprogramm. Es sind in der Regel Gruppen von 15 bis 20 Leuten, die gemeinsam gebucht haben, Kollegen, Nachbarn oder Freunde. Zur Hochsaison drängen sie sich - 50 000 sollen es jedes Jahr sein. Der Tourismus hat sich zu einem einträglichen Wirtschaftszweig entwickelt.

Die Altstadt von Dali können die Besucher durch eines der historischen Stadttore aus dem 14. Jahrhundert betreten. Als kleine Türme mit geschwungenen Dächern sind sie in die Stadtmauer integriert, die zum großen Teil erhalten ist. Die Häuser wurden im traditionellen Bai-Stil erbaut, zweistöckig, aus grauem Granit, teils mit weiß getünchten Wänden, teils mit kunstvollen Holzschnitzereien versehen, die grauen Ziegeldächer nach chinesischem Vorbild geschwungen.

Noch vor ein paar Jahren lebten die Einheimischen in der Altstadt – jetzt bleibt sie den Touristen überlassen. Die zu Geld gekommenen Besitzer bevorzugen die modernen Wohnungen in der Neustadt. Ihre alten Häuser nutzen sie als Pensionen oder Geschäfte, die sie selbst betreiben oder an auswärtige Geschäftsleute vermietet haben.

Es gibt Unmengen an Souvenirs zu kaufen, Kleider und T-Shirts - Made in India - knallbunt und paillettenbestickt, einheimischen Silberschmuck und mehr oder weniger sinnvollen Kleinkram. Vor traditionellen Lokalen locken Gemüse, Pilze und allerlei Exotisches. Daneben gibt es Restaurants mit westlichem Angebot, Bars und Cafés und seit kurzem die ersten Discos.

Angefangen hat alles Mitte der 80er Jahre, als die chinesische Regierung die Reisebeschränkungen für Ausländer aufhob. Sofort kamen erste Rucksacktouristen. Getrieben von Neugier und Abenteuerlust nahmen sie die Strapazen der schlechten Landstraßen und lange Reisezeiten auf sich. Einer von ihnen war der Amerikaner Darren Novak.

Darren: "Damals war die Gegend hier sehr unzugänglich. Es war schwierig, hierher zu kommen und es war insgesamt schwierig zu reisen, zum Beispiel etwas zu essen zu finden. Damals gab es noch nicht so viele Restaurants. Das hat sich dann aber langsam alles entwickelt."

Mittlerweile hat Yunnan in weiten Teilen eine gute Infrastruktur. Tausende Straßen wurden gebaut, Zugverbindungen geschaffen und Flughäfen angelegt. Hotels und Restaurants gibt es heute im Überfluss. Darren ist nach seinem Besuch vor knapp zwanzig Jahren hängen geblieben. Er hat sich mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen und die rasanten Veränderungen der letzten Jahre miterlebt:

"Mit den Rucksacktouristen hat es angefangen. Vor etwa zehn Jahren nach dem Erdbeben in Lijiang wurden es mehr. Ganz China hat damals Bilder von Lijiang im Fernsehen gesehen. Wahrscheinlich wusste keiner, dass es hier so einen Ort gibt. Ich glaube, das Erdbeben in Lijiang hat den heutigen, also den chinesischen Tourismus ausgelöst. Als die Stadt wieder aufgebaut war, ging es von dort aus weiter."

Lijiang liegt etwa zweihundert Kilometer nördlich von Dali. Die Stadt ist geprägt von den Naxi und ihrer Kultur, die den Bai sehr nahe steht. Auch die Häuser in der Altstadt mit ihren geschwungenen Dörfern ähneln denen in Dali. Viele Naxi-Frauen tragen ebenfalls noch traditionelle Kleidung. Als 1996 die Bilder des von einem Erdbeben schwer zerstörten Lijiang über chinesische Bildschirme flimmerten, sahen viele Menschen ein China, das sie selbst nicht kannten.

Darren: "Ich glaube, viele Leute aus anderen Teilen Chinas konnten sich nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die noch auf diese traditionelle Art und Weise leben. Sie hatten ein ähnliches Bild von China wie wir aus dem Westen: Alle machen mehr oder weniger das Gleiche, alle sehen mehr oder weniger gleich aus. Auch ich hatte mir keine Gedanken über Minderheiten in China gemacht. Ich wusste nichts davon, bis ich hier war, und dann war ich überrascht, all diese verschiedenen Kulturen zu sehen mit ihren eigenen Sprachen, Religionen und mit ihren Traditionen, die bis zum heutigen Tag unglaublich stark sind."

Darren sitzt in einer Kneipe in der Altstadt und trinkt ein Dali-Bier. Er ist fasziniert von den reichen Traditionen und dem großen Können und Wissen der Bai:

"Es sind großartige Handwerker und zwar in fast allen Bereichen. Die Traditionen reichen sehr weit zurück, das Niveau von Handwerk und Technik ist sehr, sehr hoch. Hier gibt es Dinge, die man so woanders nicht finden kann."

Daneben betreiben die Bai intensive Landwirtschaft. Sie kennen sich mit Heilkräutern aus und mit der Bearbeitung von Marmor. Sie sind hervorragende Silberschmiede und Schreiner und ihre traditionelle Architektur ist einzigartig in China.

Darren: "Das traditionelle Bai-Haus hat einen Hof in der Mitte. An drei Seiten steht je ein Haus. An der vierten Seite ist die sogenannte reflektierende Wand und die ist normalerweise nach Westen ausgerichtet. Wenn die Sonne untergeht, wirft diese Wand das Sonnenlicht zurück in den Innenhof. Dann die Rückseite der Häuser hier in Dali: Viele Leute wundern sich darüber, dass die Häuser keine Fenster auf der Rückseite haben. Das ist einfach, weil der Wind so stark weht."

Darren wohnt selbst in einem der traditionellen Häuser und weiß seine Vorteile zu schätzen. Die windgeschützten Innenhöfe sind schön gestaltet, die Wände bemalt und mit Holzschnitzereien verziert. Wie die meisten ist sein Haus zweistöckig. Jedes Stockwerk besteht aus einem Zimmer, das im Erdgeschoss direkt vom Innenhof aus und im oberen Stock über die Veranda betreten wird. Es ist schon spät am Nachmittag und Darren muss noch einiges erledigen, denn ab morgen herrscht Ausnahmezustand in Dali.

Darren: "Morgen beginnt das Dreimonatsfest, das mindestens zweitausend Jahre alt sein dürfte. Es ist eine alte traditionelle Medizinmesse, zu der viele Minderheiten aus den Bergen herunterkommen. Tibeter, die Leute der Yi und der Bai. Sie ernten Heilkräuter und verkaufen sie auf dem Markt. Es wird auch das Fest der Guanyin genannt, das Fest der Göttin des Mitgefühls. Leute aus ganz China kommen inzwischen her und kaufen ein, weil alle Heilkräuter frisch aus den Bergen kommen viel preisgünstiger sind als anderswo in China."

Am Festtag strahlt die Sonne. Hunderte Menschen aus den umliegenden Dörfern sind gekommen. Viele tragen bunte Trachten, vorherrschend ist das Rot-Weiß der Bai. Musiker sind mit traditionellen Instrumenten unterwegs. Aufgeregte Mädchen schwirren in ihren farbenfrohen Tanzgruppen umher. Es herrscht ausgelassene Jahrmarktstimmung mit Kinderkarussell, Zuckerwatte, fliegenden Händlern, unzähligen Verkaufsbuden und vor allem mit viel Musik und Tanz. Chinesische Reisegruppen drängen sich durch die Massen der Einheimischen, auch einige Ausländer sind da.

Katharina: "Also in der Bai-Kultur wird eben oft auch die Musik genutzt, um zum Beispiel zwischen Jungen und Mädchen Kontakt herzustellen. Wenn sie auf der Straße laufen, dann fängt einer eben an, eine Strophe zu singen oder zu spielen, und der andere oder die andere reagiert dann drauf."

Katharina steht auf dem Platz vor dem nördlichen Stadttor, wo die Musiker und Tänzerinnen Kostproben ihrer traditionellen Künste geben. Sie lebt seinen einigen Jahren als Deutschlehrerin in Kunming, der Provinzhauptstadt von Yunnan. Wie viele Kunminger wollte auch sie das Dreimonatsfest endlich einmal sehen:

"Also es ist einfach ein großer sehr bunter Jahrmarkt. Dadurch, dass die Leute aus verschiedenen entlegenen Dörfern kommen, ist das auch eine ganz bunte Mischung, auch verschiedene Minderheiten. Es kommen nicht nur Bai, obwohl das das größte Fest der Bai-Minderheit ist, aber man sieht dann auch Muslime, Naxi, Tibeter – alles ganz gemischt."

Einer der Musiker kommt auf Katharina zu. Wie viele Einheimische bietet er Touristen Ausflüge an: zum Erhai-See, in die Berge oder zu den umliegenden Dörfern. Der Musiker wohnt zwar in der Neustadt von Dali, kommt aber ursprünglich aus einem kleinen Dorf in der Nähe. Seine Familie lebt noch dort und er möchte den ausländischen Touristen das traditionelle Dorfleben zeigen.

Katharina hat keine Zeit für einen Dorfbesuch. Sie ist mit einem Fischer verabredet, der ihr das traditionelle Fischen mit Kormoranen am Erhai-See zeigen will. Etwas später sitzt sie mit ihm in einem Ruderboot. Der See schimmert glatt im Sonnenlicht. Neben ihr das zweite Boot mit den Kormoranfischern. Einige der schwarz glänzenden Vögel hocken gurrend auf dem Bootsrand, andere tauchen aufgeregt auf und ab auf der Jagd nach Fischen.

Katharina: "Also die Kormorane können fünf bis sechs Minuten unter Wasser bleiben. Die sind jetzt nicht angebunden, die schwimmen dann aber auch nicht weg oder so, sondern die gehorchen ihrem Herrchen, der macht dann so einen bestimmten Ton und dann kommen die auch wieder zurück."

Heute ist das Kormoranfischen in erster Linie Touristenattraktion. Im Alltag betreiben es nur noch sechs Familien. Früher aber war es gängige Praxis am Erhai-See. Noch 1995 gab es hundert Familien, die es praktiziert haben. Der Tourismus hat das Leben der Menschen verändert. Bisher haben die Bai in erster Linie davon profitiert, meint Darren Novak:

"Nur der Schwerpunkt hat sich geändert, mit dem die Leute Geld verdienen. Anstatt den Nachbarn die Fische zu verkaufen, verkaufen sie die jetzt an die Restaurants. Oder sie bauen Früchte nur für den Touristenmarkt an. Das ist eine große Änderung. Aber bis vor Kurzem war alles, was sie an Touristen verkauft haben, von hier. Das ganze Geld ist hier geblieben, und jeder hat ein Stück davon abbekommen, was wirklich gut war. Jetzt allerdings ändert sich das, weil Firmen wie McDonald's kommen und das Geld von hier abziehen. Wir werden sehen, wohin das führt."