Die verlorene Geliebte

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 08.03.2006
Die niederländische Autorin Rascha Reeper erzählt in der romantisch-herben Geschichte "Visions of Hanna" von der Liebe, die allein in der Entfernung wächst und gedeiht. Es geht um die ehemaligen Liebhaber und die Familie von Hanna, die seit zwei Jahren vermisst wird. Die Gedanken der Zurückgebliebenen kreisen um die rätselhafte Tote, mehr als es der Lebenden je gelungen war.
Alles dreht sich um Hanna, dabei ist sie spurlos verschwunden, bei einem Schiffsunglück vermutlich ums Leben gekommen – doch auch zwei Jahre danach kommt keiner von ihr los. Robin, ihr ehemaliger Freund, der in Amsterdam als Taucher arbeitet, verfolgt nur noch einen Plan: die vor Afrikas Küste gestrandete Yacht, mit der seine Geliebte untergegangen ist, zu bergen. Wie von einer Obsession wird er heimgesucht von Schuldgefühlen, weil er Hanna einst seinem besten Freund Gerry ausgespannt hat. Der lebt inzwischen in New York und erblickt in jeder rothaarigen Schönen die verlorene Geliebte.

Als Meeresbiologe betreibt er an der Columbia-University ein Forschungsprojekt über ozeanische Strömungen und setzt eine Armada von zehntausend Plastikenten aus, um den Verlauf des Äquatorialstroms nachzuvollziehen. Einige davon werden eines Tages an der Fundstelle des Schiffswracks aufgefischt. Hannas Nichte Emma schließlich, eine fünfzehnjährige Schülerin, verehrt ihre Tante so sehr, dass sie sich nicht nur deren Lebensstil zueigen macht, sondern sich auch verzweifelt in deren ehemaligen Freund verliebt. Nach allen Regeln der Kunst versucht sie ihn zu verführen, was ihr nur beinahe gelingt, denn dieser leistet, entgegen seinen Gefühlen, erbitterten Widerstand. Wie um einen fernen Planeten kreisen die Gedanken aller drei um die rätselhafte Tote, mehr als es der Lebenden je gelungen war.

Rascha Peper erzählt die Geschichte um eine Liebe, die nicht enden will, in wechselnden Perspektiven. Mit großem Geschick arrangiert sie die unterschiedlichen Stimmen zu einem dauerhaften Parlando, so dass aus den Erinnerungen der Freunde ein Panorama der Vergangenheit erwächst, viel gesichtig und höchst widersprüchlich. Wer Hanna war – keiner wüsste es allein zu sagen. Nicht der Vater über seine Lieblingstochter, nicht die Schwester über die großen Konkurrentin an ihrer Seite, auch nicht die schwärmerische Nichte, am allerwenigsten aber die einstigen Liebhaber.

Ähnlich wie in ihrem Roman, "Das Mädchen, das vom Himmel fiel," der 2001 ins Deutsche übersetzt wurde, verfolgt Rascha Peper auch in "Visions of Hanna" ein großes Motiv, über das jeder Altkluge bestens Bescheid weiß: die Liebe wächst und gedeiht allein in der Entfernung. Die Nähe ist, den Gesetzen der Gewöhnung folgend, zumeist ihr Tod.

Was so tragisch klingt, entfaltet bei Rascha Peper dank einer stilsicheren, höchst unterhaltsamen, spannenden Erzählweise, durchaus komische Seiten. Dazu trägt auch eine Reihe von Randfiguren bei, liebenswürdige, düstere und skurrile Gestalten mit sonderbaren Überlebensstrategien im New York der überteuerten Mietpreise, mit sexuellen Obsessionen, die zu allerlei Verwicklungen und komödienhaften Verwechslungen führen, und nicht zuletzt die blauen Plastikenten, die an Stellen angeschwemmt werden, wo sie keiner erwartet.

Mit ihrem neunten Roman hat die 1949 geborene Rascha Peper, die neben Connie Palmen, Jessica Durlacher zu den bekannteren Schriftstellerinnen ihres Landes gehört, eine romantisch-herbe Geschichte vorgelegt, die wie die unbekannten Strömungen im Atlantik, eine Sogwirkung entfaltet, der man sich trotz der langen 590 Seiten nicht entziehen mag.

Rascha Peper, Visions of Hanna.
Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Mare-Verlag, 2006. 590 Seiten, 24,90 Euro