Die Vergangenheit des Gewinners
"Also ich plädiere für's Gespräch, fürs Gespräch miteinander, und das findet, glaube ich, zwischen den sogenannten Tätern und den sogenannten Opfern nur sehr, sehr marginal statt", sagt der Schriftsteller Dirk Brauns über Menschen, die wie die Helden seines Romans "Im Inneren des Landes", sich einst gegenüberstanden und nun begegnen.
Dieter Kassel: Die Handlung des Romans "Im Inneren des Landes" spielt sich in einem Zeitraum von nur 24 Stunden ab und reicht doch viele Jahrzehnte zurück -zurück in die Zeit, als einer von zwei Männern, um die es hier geht, als Stefan Brenner nämlich bei der Nationalen Volksarmee war und ein anderer Mann, Ingo Kern, war dort sein Vorgesetzter. Ein ausgesprochen sadistischer Vorgesetzter, der einen anderen Mann, einen Freund von Stefan Brenner, so in die Enge trieb, dass dieser Mann am Ende keinen Ausweg mehr sah und sich das Leben nahm. Das ist in dem Moment, in dem dieser Roman spielt, schon lange her, Jahrzehnte her, und beide Männer haben eigentlich eine gewisse Karriere gemacht danach. Vor allen Dingen allerdings Ingo Kern, der ehemalige Vorgesetzte bei der NVA, der arbeitet in diesem Roman als Personalberater bei der Deutschen Bahn AG und ist sozusagen aufgrund seiner Erfahrungen bei der NVA die Idealbesetzung für diesen Job. Der andere arbeitet für einen Automobilkonzern und überprüft Autohäuser. Und das spielt auch eine wichtige Rolle, denn das zwingt ihn dazu, zurückzukehren an den Ort in der Nähe Ueckermünde, Eggesin, ein wirklich existierender Ort, an dem es wirklich früher eine große Kaserne gab, an diesen Ort zurückzukehren und dort seinem ehemaligen Vorgesetzten wieder zu begegnen. Und am Ende, das darf man verraten, weil man es auch am Anfang des Buches schon erfährt, am Ende fällt ein Schuss. Soweit knapp zusammengefasst die Handlung von "Im Innern des Landes". Geschrieben hat diesen Roman Dirk Brauns, der inzwischen mit seiner Familie in Warschau lebt, und den wir deshalb - da hatten wir kleine Probleme - jetzt bei den Kollegen vom polnischen Rundfunk von Warschau im Studio begrüßen. Schönen guten Tag, Herr Brauns!
Dirk Brauns: Ja, schönen guten Tag!
Kassel: Sie sind Journalist, von Warschau aus arbeiten Sie unter anderem für die Berliner Zeitung, waren vorher in China. Sie hätten, finde ich, aus dem Stoff, um den es geht in diesem Buch, eine Reportage machen können oder mehrere oder auch ein Sachbuch - warum haben Sie einen Roman geschrieben?
Brauns: Oh, das ist eigentlich eine sehr persönliche Geschichte. Ich hatte hier vor ein paar Jahren einen Unfall, und der zwang mich dann ein paar Wochen ins Bett, und ich konnte mich nicht bewegen, konnte auch nicht wirklich arbeiten. Und wie das dann manchmal so ist, wenn man flachliegt, dann kommt man ins Nachdenken, und ich dachte dann, dass es Zeit ist, was Längeres zu schreiben, was sich auch einfach länger lesen lässt.
Kassel: Mir ist aufgefallen, als ich diese Geschichte gelesen habe, dass immer sehr viel seit der sogenannten Wende darüber gesprochen wird, was aus Leuten geworden ist mit einer Stasi- oder auch mit einer zweifelhaften NVA-Vergangenheit, die das später die Karriere gekostet hat. Über diese Leute wie diesen Ingo Kern in ihrem Buch, deren Karriere das eher gefördert hat, ist immer viel weniger geredet worden. Ging es Ihnen genau so?
Brauns: Ja, das ist ja, wenn man sich in so einen Stoff rein bewegt, dann versucht man, was rauszufinden, auch für sich selbst, und dann löst man sich eben von dieser journalistischen Wahrheit, die mit so Begriffen wie "Stasi" und "NVA" und so weiter verbunden sind, und findet dann eben raus, dass es vielleicht eher darum geht, einen bestimmten Typen auch zu beschreiben, der halt in unterschiedlichen Rollen und auch in unterschiedlichen Systemen durchaus Karriere machen kann.
Kassel: Aber diese Typen gibt es ja wirklich, und ich nehme doch mal an, mehrere Menschen, aus denen insgesamt für Sie Ingo Kern gewachsen ist, sind Ihnen bestimmt begegnet.
Brauns: Ja klar, ich würde auch jetzt Typen gar nicht so diffamierend, nicht so pejorativ bezeichnen. Also das sind Charaktere vielleicht auch, also die haben ja was sehr Faszinierendes. Ohne eine Faszination für diese Charakterstruktur hätte ich das gar nicht so schreiben können. Wobei ich natürlich sagen muss: Ich habe mit dem Stefan angefangen. Das hat mich am Anfang stärker interessiert, und da gab es vielleicht auch eine etwas größere Schnittmenge mit meiner eigenen Biografie, weil das wirklich tatsächlich - ich bin ja tatsächlich an diesem Ort gewesen, Ende der 80er Jahre, das war jetzt nicht die unbedingt beste und schönste Zeit meines Lebens, aber natürlich habe ich da eine gewisse Lehre empfangen, ja? Aber danach habe ich dann eben mich für den sogenannten Täter - wobei Täter auch wiederum so ein zu großes und zu schweres Wort ist, ich würde eher sagen, für den Gewinner habe ich mich interessiert.
Kassel: Ist denn Eggesin - ich habe es ja schon gesagt, nicht nur der Ort existiert wirklich, der wird auch in ihrem Roman ja so genannt, sondern auch die Geschichte des Ortes ist real, da war eine der größten NVA-Kasernen - für Sie immer noch ein Ort, den Sie am liebsten gar nicht betreten?
Brauns: Nein, das kann ich absolut nicht so sagen. Im Zuge der Recherchen habe ich den Ort noch mal ganz neu kennengelernt. Ich bin da eben das erste Mal gewesen nach vielen Jahren, und das hat mir da so wunderbar gefallen, dass ich gleich in dem Sommer danach mit meiner Familie da Urlaub gemacht habe. Es ist eine wunderbare Landschaft, absolut naturbelassene riesige Wälder nahe der polnischen Grenze, wundervoll da. Und es geht auch mir gar nicht darum, diese Leute, die nichts dafür können, dass sie jetzt aus Eggesin sind, da irgendwie zu verdammen oder so. Viele von denen können gar nichts dafür, dass sie da leben. Und das ist auch inzwischen schön da. Aber für mich hat der Ort natürlich in meinem Buch eine literarische und vielleicht auch eine soziologische Funktion.
Kassel: Ich musste bei dem, was Sie beschreiben - man sollte vielleicht sagen, Sie beschreiben schon, wie der Freund von Stefan sich umgebracht hat, wie er das getan hat in einem Waschraum -, sie beschreiben nicht so richtig im Detail, was vorher passiert ist, also worin diese Quälereien wirklich bestehen. War das Absicht?
Brauns: Das war Absicht, ja, durchaus, also ich habe mich da abgearbeitet an so NVA-Geschichten, aber schon allein, wenn ich mich jetzt das Wort NVA sagen höre, dann stellt sich bei mir wie bei einem Hund hinten so die Bürste auf, und das mag ich nicht. Ich mag nicht diese Reduzierung auf Räume, die wir alle zu kennen glauben, die wir natürlich nicht kennen. Das war mir zu belegt und zu belastet, das hat mich nicht interessiert. Ich wollte nicht noch mal so einen NVA-Roman schreiben. Ich wollte das schon in die Gegenwart holen. Ich wollte schauen, wie viel Vergangenheit, wie viel spezielle Vergangenheit ist in dieser speziellen Gegenwart dieser Geschichte. Ich habe es auch wirklich sehr vermieden, NVA, diese, oder auch DDR, diese ganzen Abkürzungen, die ich auch nicht so besonders mag und auch literarisch nicht besonders interessant finde, zu verwenden - habe ich jetzt nicht gemacht. Man müsste das mal durchjagen. Ich würde vermuten, ich habe nicht mehr als fünf mal im Buch NVA geschrieben, und dann musste ich es auch irgendwie schreiben. Und dann war es irgendwie Dokumentenlage oder so.
Kassel: Ich bin sehr glücklich, dass Sie das sagen, Herr Brauns, weil es für mich auch während des Lesens eigentlich nie ein Buch über die NVA war, und mich hat das auch nicht gestört, dass sie gewisse Dinge eben doch nicht beschreiben. Für mich war es denn schon ein Buch über - sagen wir mal - die 20 Jahre nach der Wende, und wie sich Karrieren entwickeln. Und was Sie auch schon gesagt haben, es ist nicht so ganz eindeutig: Ingo Kern, der uneingeschränkt Böse, und Stefan ist der uneingeschränkt Gute, und der eine ist eindeutig schuldig und der andere ist der Rächer - war das von Anfang an so, oder hat sich das beim Schreiben so entwickelt.
Brauns: Ja, ich glaube, es hat sich eher beim Schreiben entwickelt, aber man findet natürlich im Laufe des Schreibens dann auch so zu gewissen Definitionen und Abgrenzungen. Eigentlich hat sich beim Schreiben der große Gegensatz der beiden, der ja auch unbestritten da ist, der hat sich aufgeweicht, und - ja, ich muss es leider so sagen - hat sich ein eher gemeinsamer Stallgeruch durchgesetzt, ja? Das ist auch im Grunde eine bittere Erkenntnis dieses Buches, es ist so vergleichbar, wenn sich ehemalige Schlachtengegner später auf dem Schlachtfeld wieder begegnen, dann hatten beide Seiten, die sich damals umgebracht haben, im Grunde "nur" eine gemeinsame Zeit, nur in Anführungsstrichen. Also dieser gemeinsame Stallgeruch ist auch sehr stark, und ich glaube, der führt auch am Anfang, sagen mir viele Leser inzwischen, dazu, in den ersten zwei - also jeweils dann insgesamt vier - Kapiteln dazu, dass man sich erst mal orientieren muss, wer ist denn überhaupt wer, in welche Familienräume und Konstellationen gerate ich denn da gerade mit dem einen. Aber dann im Laufe der Zeit, im Laufe der Geschichte, glaube ich, findet man sich ein bisschen besser zurecht.
Kassel: Aber ist das vielleicht so ein bisschen was, was man in der Realität das Stockholm-Syndrom nennen würde? Sind Sie dieser Figur Ingo Kern, weil Sie so viel Zeit mit ihr verbracht haben beim Schreiben, irgendwann zu nahe gekommen? Denn wenn man sich - wenn ich jetzt nur die Fakten aufzählen würde - so ein bisschen seine Biografie entnommen aus dem Buch, dann würde jeder sagen, es ist doch klar, Kern ist der Böse.
Brauns: Ja, natürlich. Ich musste, und ich wollte auch, jemanden kreieren und erfinden, der mit einer Schuld -vielleicht nicht ringt aber - zu tun hat. Da konnte ich natürlich nicht, oder ich wollte auch nicht so ein Klischee da schaffen, sondern mir war klar: Dieser Mann muss Risse haben, dem muss ich was mitgeben, dass auch ihm diese Geschichte nahegeht, und das ist eine reine Konstruktionsfrage. So jemanden habe ich niemals kennengelernt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es solche Menschen gibt. Die können sich gerne bei mir melden: 'Hallo, wenn Ihr mich hört, meldet Euch bei mir und sagt mir, wie Euch dieses Buch gefallen hat, Ihr Ingo Kerns da draußen!'
Kassel: Der Ingo Kern in dem Buch ist natürlich jemand, der - mal jenseits der Frage, ob einem so was gelingt - viel lieber mit der Vergangenheit abschließen würde als Stefan Brenner, was jetzt, wo ich es sage, mir schon wieder nicht richtig erscheint, weil Brenner das vielleicht theoretisch auch gerne würde, es geht aber nicht. Wofür plädieren Sie eigentlich in diesem Buch, dessen Ende wir im Detail noch nicht verraten? Kann man abschließen mit so was? Immerhin klingen da Dinge nach, die zu dem Zeitpunkt ja 30, 40 Jahre her sind.
Brauns: Ich bin jetzt natürlich nicht der Doktor Sommer der gesellschaftlichen Prozesse, aber grundsätzlich mag ich Literatur, die sehr ... ich glaube, dieses Buch, da reihe ich mich irgendwie, glaube ich, ein, ist ein sehr extremes Buch. Aber am Ende, wenn für mich am Ende eine Art Versöhnungsidee und Vorschlag rüberkommt, dann wäre ich schon sehr zufrieden. Also ich plädiere für's Gespräch, fürs Gespräch miteinander, und das findet, glaube ich, zwischen den sogenannten Tätern und den sogenannten Opfern nur sehr, sehr marginal statt.
Kassel: Vielleicht trägt dieses Buch zu dem einen oder anderen Gespräch bei. Ich danke Ihnen für unser Gespräch - Dirk Brauns war das, Autor des Romans "Im Innern des Landes", der bei Galiani Berlin erschienen ist. Herr Brauns, vielen Dank nach Warschau!
Brauns: Ja, vielen Dank auch zurück!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dirk Brauns: "Im Inneren des Landes"
Galiani Verlag, Berlin 2012
224 Seiten, 16,99 Euro
Programmhinweis: Bücherherbst 2012
Am 13.10.2012 sendet Deutschlandradio Kultur ab 23.05 Uhr eine dreistündige Sendung von der Internationalen Frankfurter Buchmesse. Neun Autorinnen und Autoren mit ihren Neuerscheinungen in Lesung und Gespräch. (u.a. Karen Duve, Anna Enquist, Sabrina Janesch, Bodo Kirchhoff, Anthony McCarten und Anne Weber)
Dirk Brauns: Ja, schönen guten Tag!
Kassel: Sie sind Journalist, von Warschau aus arbeiten Sie unter anderem für die Berliner Zeitung, waren vorher in China. Sie hätten, finde ich, aus dem Stoff, um den es geht in diesem Buch, eine Reportage machen können oder mehrere oder auch ein Sachbuch - warum haben Sie einen Roman geschrieben?
Brauns: Oh, das ist eigentlich eine sehr persönliche Geschichte. Ich hatte hier vor ein paar Jahren einen Unfall, und der zwang mich dann ein paar Wochen ins Bett, und ich konnte mich nicht bewegen, konnte auch nicht wirklich arbeiten. Und wie das dann manchmal so ist, wenn man flachliegt, dann kommt man ins Nachdenken, und ich dachte dann, dass es Zeit ist, was Längeres zu schreiben, was sich auch einfach länger lesen lässt.
Kassel: Mir ist aufgefallen, als ich diese Geschichte gelesen habe, dass immer sehr viel seit der sogenannten Wende darüber gesprochen wird, was aus Leuten geworden ist mit einer Stasi- oder auch mit einer zweifelhaften NVA-Vergangenheit, die das später die Karriere gekostet hat. Über diese Leute wie diesen Ingo Kern in ihrem Buch, deren Karriere das eher gefördert hat, ist immer viel weniger geredet worden. Ging es Ihnen genau so?
Brauns: Ja, das ist ja, wenn man sich in so einen Stoff rein bewegt, dann versucht man, was rauszufinden, auch für sich selbst, und dann löst man sich eben von dieser journalistischen Wahrheit, die mit so Begriffen wie "Stasi" und "NVA" und so weiter verbunden sind, und findet dann eben raus, dass es vielleicht eher darum geht, einen bestimmten Typen auch zu beschreiben, der halt in unterschiedlichen Rollen und auch in unterschiedlichen Systemen durchaus Karriere machen kann.
Kassel: Aber diese Typen gibt es ja wirklich, und ich nehme doch mal an, mehrere Menschen, aus denen insgesamt für Sie Ingo Kern gewachsen ist, sind Ihnen bestimmt begegnet.
Brauns: Ja klar, ich würde auch jetzt Typen gar nicht so diffamierend, nicht so pejorativ bezeichnen. Also das sind Charaktere vielleicht auch, also die haben ja was sehr Faszinierendes. Ohne eine Faszination für diese Charakterstruktur hätte ich das gar nicht so schreiben können. Wobei ich natürlich sagen muss: Ich habe mit dem Stefan angefangen. Das hat mich am Anfang stärker interessiert, und da gab es vielleicht auch eine etwas größere Schnittmenge mit meiner eigenen Biografie, weil das wirklich tatsächlich - ich bin ja tatsächlich an diesem Ort gewesen, Ende der 80er Jahre, das war jetzt nicht die unbedingt beste und schönste Zeit meines Lebens, aber natürlich habe ich da eine gewisse Lehre empfangen, ja? Aber danach habe ich dann eben mich für den sogenannten Täter - wobei Täter auch wiederum so ein zu großes und zu schweres Wort ist, ich würde eher sagen, für den Gewinner habe ich mich interessiert.
Kassel: Ist denn Eggesin - ich habe es ja schon gesagt, nicht nur der Ort existiert wirklich, der wird auch in ihrem Roman ja so genannt, sondern auch die Geschichte des Ortes ist real, da war eine der größten NVA-Kasernen - für Sie immer noch ein Ort, den Sie am liebsten gar nicht betreten?
Brauns: Nein, das kann ich absolut nicht so sagen. Im Zuge der Recherchen habe ich den Ort noch mal ganz neu kennengelernt. Ich bin da eben das erste Mal gewesen nach vielen Jahren, und das hat mir da so wunderbar gefallen, dass ich gleich in dem Sommer danach mit meiner Familie da Urlaub gemacht habe. Es ist eine wunderbare Landschaft, absolut naturbelassene riesige Wälder nahe der polnischen Grenze, wundervoll da. Und es geht auch mir gar nicht darum, diese Leute, die nichts dafür können, dass sie jetzt aus Eggesin sind, da irgendwie zu verdammen oder so. Viele von denen können gar nichts dafür, dass sie da leben. Und das ist auch inzwischen schön da. Aber für mich hat der Ort natürlich in meinem Buch eine literarische und vielleicht auch eine soziologische Funktion.
Kassel: Ich musste bei dem, was Sie beschreiben - man sollte vielleicht sagen, Sie beschreiben schon, wie der Freund von Stefan sich umgebracht hat, wie er das getan hat in einem Waschraum -, sie beschreiben nicht so richtig im Detail, was vorher passiert ist, also worin diese Quälereien wirklich bestehen. War das Absicht?
Brauns: Das war Absicht, ja, durchaus, also ich habe mich da abgearbeitet an so NVA-Geschichten, aber schon allein, wenn ich mich jetzt das Wort NVA sagen höre, dann stellt sich bei mir wie bei einem Hund hinten so die Bürste auf, und das mag ich nicht. Ich mag nicht diese Reduzierung auf Räume, die wir alle zu kennen glauben, die wir natürlich nicht kennen. Das war mir zu belegt und zu belastet, das hat mich nicht interessiert. Ich wollte nicht noch mal so einen NVA-Roman schreiben. Ich wollte das schon in die Gegenwart holen. Ich wollte schauen, wie viel Vergangenheit, wie viel spezielle Vergangenheit ist in dieser speziellen Gegenwart dieser Geschichte. Ich habe es auch wirklich sehr vermieden, NVA, diese, oder auch DDR, diese ganzen Abkürzungen, die ich auch nicht so besonders mag und auch literarisch nicht besonders interessant finde, zu verwenden - habe ich jetzt nicht gemacht. Man müsste das mal durchjagen. Ich würde vermuten, ich habe nicht mehr als fünf mal im Buch NVA geschrieben, und dann musste ich es auch irgendwie schreiben. Und dann war es irgendwie Dokumentenlage oder so.
Kassel: Ich bin sehr glücklich, dass Sie das sagen, Herr Brauns, weil es für mich auch während des Lesens eigentlich nie ein Buch über die NVA war, und mich hat das auch nicht gestört, dass sie gewisse Dinge eben doch nicht beschreiben. Für mich war es denn schon ein Buch über - sagen wir mal - die 20 Jahre nach der Wende, und wie sich Karrieren entwickeln. Und was Sie auch schon gesagt haben, es ist nicht so ganz eindeutig: Ingo Kern, der uneingeschränkt Böse, und Stefan ist der uneingeschränkt Gute, und der eine ist eindeutig schuldig und der andere ist der Rächer - war das von Anfang an so, oder hat sich das beim Schreiben so entwickelt.
Brauns: Ja, ich glaube, es hat sich eher beim Schreiben entwickelt, aber man findet natürlich im Laufe des Schreibens dann auch so zu gewissen Definitionen und Abgrenzungen. Eigentlich hat sich beim Schreiben der große Gegensatz der beiden, der ja auch unbestritten da ist, der hat sich aufgeweicht, und - ja, ich muss es leider so sagen - hat sich ein eher gemeinsamer Stallgeruch durchgesetzt, ja? Das ist auch im Grunde eine bittere Erkenntnis dieses Buches, es ist so vergleichbar, wenn sich ehemalige Schlachtengegner später auf dem Schlachtfeld wieder begegnen, dann hatten beide Seiten, die sich damals umgebracht haben, im Grunde "nur" eine gemeinsame Zeit, nur in Anführungsstrichen. Also dieser gemeinsame Stallgeruch ist auch sehr stark, und ich glaube, der führt auch am Anfang, sagen mir viele Leser inzwischen, dazu, in den ersten zwei - also jeweils dann insgesamt vier - Kapiteln dazu, dass man sich erst mal orientieren muss, wer ist denn überhaupt wer, in welche Familienräume und Konstellationen gerate ich denn da gerade mit dem einen. Aber dann im Laufe der Zeit, im Laufe der Geschichte, glaube ich, findet man sich ein bisschen besser zurecht.
Kassel: Aber ist das vielleicht so ein bisschen was, was man in der Realität das Stockholm-Syndrom nennen würde? Sind Sie dieser Figur Ingo Kern, weil Sie so viel Zeit mit ihr verbracht haben beim Schreiben, irgendwann zu nahe gekommen? Denn wenn man sich - wenn ich jetzt nur die Fakten aufzählen würde - so ein bisschen seine Biografie entnommen aus dem Buch, dann würde jeder sagen, es ist doch klar, Kern ist der Böse.
Brauns: Ja, natürlich. Ich musste, und ich wollte auch, jemanden kreieren und erfinden, der mit einer Schuld -vielleicht nicht ringt aber - zu tun hat. Da konnte ich natürlich nicht, oder ich wollte auch nicht so ein Klischee da schaffen, sondern mir war klar: Dieser Mann muss Risse haben, dem muss ich was mitgeben, dass auch ihm diese Geschichte nahegeht, und das ist eine reine Konstruktionsfrage. So jemanden habe ich niemals kennengelernt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es solche Menschen gibt. Die können sich gerne bei mir melden: 'Hallo, wenn Ihr mich hört, meldet Euch bei mir und sagt mir, wie Euch dieses Buch gefallen hat, Ihr Ingo Kerns da draußen!'
Kassel: Der Ingo Kern in dem Buch ist natürlich jemand, der - mal jenseits der Frage, ob einem so was gelingt - viel lieber mit der Vergangenheit abschließen würde als Stefan Brenner, was jetzt, wo ich es sage, mir schon wieder nicht richtig erscheint, weil Brenner das vielleicht theoretisch auch gerne würde, es geht aber nicht. Wofür plädieren Sie eigentlich in diesem Buch, dessen Ende wir im Detail noch nicht verraten? Kann man abschließen mit so was? Immerhin klingen da Dinge nach, die zu dem Zeitpunkt ja 30, 40 Jahre her sind.
Brauns: Ich bin jetzt natürlich nicht der Doktor Sommer der gesellschaftlichen Prozesse, aber grundsätzlich mag ich Literatur, die sehr ... ich glaube, dieses Buch, da reihe ich mich irgendwie, glaube ich, ein, ist ein sehr extremes Buch. Aber am Ende, wenn für mich am Ende eine Art Versöhnungsidee und Vorschlag rüberkommt, dann wäre ich schon sehr zufrieden. Also ich plädiere für's Gespräch, fürs Gespräch miteinander, und das findet, glaube ich, zwischen den sogenannten Tätern und den sogenannten Opfern nur sehr, sehr marginal statt.
Kassel: Vielleicht trägt dieses Buch zu dem einen oder anderen Gespräch bei. Ich danke Ihnen für unser Gespräch - Dirk Brauns war das, Autor des Romans "Im Innern des Landes", der bei Galiani Berlin erschienen ist. Herr Brauns, vielen Dank nach Warschau!
Brauns: Ja, vielen Dank auch zurück!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Dirk Brauns: "Im Inneren des Landes"
Galiani Verlag, Berlin 2012
224 Seiten, 16,99 Euro
Programmhinweis: Bücherherbst 2012
Am 13.10.2012 sendet Deutschlandradio Kultur ab 23.05 Uhr eine dreistündige Sendung von der Internationalen Frankfurter Buchmesse. Neun Autorinnen und Autoren mit ihren Neuerscheinungen in Lesung und Gespräch. (u.a. Karen Duve, Anna Enquist, Sabrina Janesch, Bodo Kirchhoff, Anthony McCarten und Anne Weber)