Die Utopie des Tanzes

Von Michaela Schlagenwerth |
Seit 14 Jahren leitet Rami Beer die israelische "Kibbutz Dance Company". Mit seinen virtuosen, energetisch aufgeladenen Arbeiten ist die Company international bekannt geworden. Sie öffnen Assoziationsräume und zeigen spielerisch, was möglich sein könnte.
"Für mich ist Tanz ein Weg, um Kommunikation zu kreieren. Es ist für mich ein Weg, um eine Brücke zwischen unterschiedlichen Menschen zu bauen, zwischen unterschiedlichen Ländern, unterschiedlichen Sprachen, unterschiedlichen Religionen und kulturellen Hintergründen."

Nichts, was Tanzen nicht kann. Für Rami Beer ist Tanz eine Art Universalsprache, die jeder verstehen kann, egal woher er kommt. So schwärmt der Israeli in der Lounge eines Vier-Sterne-Hotels in Italien. Er ist ein Fremdkörper hier, optisch allemal: in legerer Jeans, T-Shirt und Pulli. Strähniges blondes Haar, blaue Augen. Er wirkt eher derb.

Rami Beer ist auf Gastspielreise mit einer älteren Arbeit, in der es um die zweite Generation der Holocaustüberlebenden geht. Darum, wie sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mischen, wie man den Erinnerungen nicht entkommen kann. Rami Beer, seit 1996 künstlerischer Leiter der Kibbutz Dance Company, ist in Israel geboren.

"Es ist das Land, zu dem ich gehöre, es ist mein Zuhause. Es ist der Ort, an dem ich leben möchte."

Rami Beers Eltern kommen aus Ungarn. Als Holocaustüberlebende haben sie 1948 nur wenige Kilometer entfernt von der libanesischen Grenze den Gaaton Kibbutz gegründet. Dort ist Rami Beer geboren und aufgewachsen. Dort hat er bei Yehudit Arnon, die das gleiche Konzentrationslager wie seine Eltern überlebt hatte, das Tanzen gelernt.

Der Gaaton Kibbutz seiner Kindheit, das war für Rami Beer ein Ort mit einer starken sozialen Idee, ein geschützter Ort, fast ein wenig wie eine kleine, gelebte Utopie. Mit dem festen Willen, sein Land zu schützen, ging er siebzehnjährig zur israelischen Armee.

"Das muss jeder Israeli tun. Es ist eine Pflicht, dem Land zu dienen, Israel zu dienen. Männer müssen für drei, Frauen für zwei Jahre in die Armee. Man hat da keine Wahl. Und ich dachte: Das ist die Armee, die Israel verteidigt, es ist die Armee, die das Land verteidigt."

Während seiner Militärzeit wird Rami Beer an diversen Fronten eingesetzt. Mehrfach schießt er auf Menschen und ja, manche wird er tödlich getroffen haben. Als er mit 21 Jahren entlassen wird, sind seine bisherigen Vorstellungen von der Armee als Schutzmacht erschüttert.

"Du stellst dir selbst Fragen. Du siehst Dinge, von denen du als Mensch denkst, dass sie falsch sind, aber als Soldat musst du den Befehlen gehorchen."

30 Jahre ist das jetzt her. Aber verarbeiten, sagt der 51-Jährige, könne er diese Erfahrungen nicht. Dazu gäbe Israel ihm und auch all den anderen keine Chance.

"Man kann sich davon nicht verabschieden, weil Israel immer noch Gebiete besetzt hält. Damit bringt man sich zwangsläufig in eine Situation, in der man falsche Dinge tun muss."

Ursprünglich wollte Rami Beer Musiker werden. In seiner Kindheit hat er nicht nur getanzt, sondern auch Cello gespielt. Aber nach dem Militärdienst entschied er sich für eine Ausbildung zum Choreografen. Aus Überzeugung, weil der Tanz ihm mehr als die Musik die Chance zur Einmischung, zur Stellungnahme gibt.

"Ich glaube, dass Tanz ein Teil unseres heutigen Lebens ist, hier und jetzt. Tanz steht mit dem wirklichen Leben in Beziehung. Ich bin nicht naiv, ich glaube nicht, ich könnte das wirkliche Leben auf die Bühne bringen. Aber ich beziehe mich auf dieses wirkliche Leben. Es ist für mich eine Notwendigkeit, das zu tun."

Dem Choreografen geht es dabei nicht darum, anderen die eigenen Überzeugungen aufzudrängen. "An dem Ort, an dem wir Recht haben, werden niemals Blumen wachsen, im Frühjahr", heißt es in "Screen Saver", einem seiner Arbeiten. Es sind Zeilen aus einem Gedicht von Jehuda Amichai. Nein, Recht will Rami Beer nicht haben. Auch wenn er weiß, dass es ohne Kompromisse, ohne die Teilung Israels in zwei unabhängige Staaten keinen Frieden in der Region geben wird.

"Ich glaube, die meisten Menschen verstehen, dass ein Kompromiss notwendig ist. Aber es gibt auf beiden Seiten nicht genug Vertrauen. Die Frage ist, wie man dieses Vertrauen entwickeln kann. Es ist kompliziert."

Mit eben dieser Frage spielt Rami Beer in seinen Stücken auf subtile Weise. Seine Arbeiten sind energetisch aufgeladene Tanzspektakel. Sie sind sehr poetisch und nicht frei von Kitsch. Aber sie sind gleichzeitig von einer tiefen Wahrhaftigkeit.

Der israelische Choreograf ist ein Meister darin, unterschiedlichste Zeichen und Ebenen ineinander zu verschieben und zu verdichten und so weite Assoziationsräume zu öffnen. Assoziationsräume, die gerade das, was nicht möglich scheint, nämlich ein anderes Miteinander vorstellbar machen. Und dabei Israel in einem anderen Licht zeigen.

Hinweis:
"In The Black Garden" und "60 Hz" von Rami Beer sind am 29. und 30. April sowie am 1. und 2. Mai beim Tanzfestival Movimentos in Wolfsburg zu sehen.