Die Ureinwohner
Erst fanden Archäologen in einer Höhle 3000 Jahre alte Knochen, dann fand eine Wissenschaftlerin DNA-Gut in den Schädeln und Knochen, nun suchen die Bewohner des Landkreises Osterode nach möglichen Nachfahren der Bronzezeitmenschen.
Und nun gibt es fünf "heiße Kandidaten", Bewohner aus der Gegend, die höchstwahrscheinlich, so sicher man das in diesem weltweit einmaligen Fall, sagen kann, mit den Bronzezeitknochen verwandt sind. Lange wussten die "heißen Kandidaten" nichts darüber. Die Anthropologin hielt ihre Namen geheim. Sie wollte noch allerletzte Berechnungen abwarten. Nun ist es so weit.
Die Lichtensteinhöhle liegt in den sanften Hügeln des Harzes. 1972 haben Heimatforscher sie entdeckt. Ein paar Jahre später fanden Höhlenforscher dort Knochen. Der Landkreis ließ eine Eisentür vor die Höhle bauen. 1992 brachen Unbekannte die Tür auf, stahlen Knochen, Schädel, Bronzeschmuck - und nun trat der Kreisarchäologe auf den Plan. Umgehend leitete er eine Grabung in die Wege, um die aus Geldmangel bislang nicht geborgenen Schätze aus dem Lichtenstein zu retten.
Förste ist ein Dorf am Fuße des Lichtensteins. 990 nach Christus erstmals urkundlich erwähnt (oder 840, aber das ist nicht gesichert) – 1920 Einwohner, Fachwerkhäuser, Geranien, ein paar Radfahrer und Fußgänger auf der Hauptstraße. Im Heimatmuseum sitzt Helga Häusler, geborene Binnewies, vor Papieren und Urkunden. Ihre Familie lebt schon lange in Förste. Seit 1535.
"Das war ein Jobst Binneweis, dieser 1535 geborene, das geht aus einer Gerichtsakte hervor. Das war so ein etwas streitbarerer Mitbürger, der musste sich vor Gericht verantworten."
Auch ein Ahn der nächsten Generation musste sich vor Gericht verantworten - wegen Beleidigung eines Amtsmannes.
"Meine Vorfahren … waren sehr … wie soll ich das sagen? Das waren Menschen, die wussten, wo es lang geht, also die waren schon sehr bestimmend, von Vaters Seite her. Und wenn man die Berufe anguckt: Wir haben keine Lehrer und sonst was dabei - immer waren es Maurer. Mein Vater war Maurer, mein Opa war Maurer, sein Vater war Maurer. Wenn Sie noch eins weiter gucken: der heißt Johann Heinrich, geboren 18.6.1786 in Förste - das waren schon richtige, echte Förster. Und wenn Sie noch weiter sehen: Es steht immer Förste, Förste …"
Dorste ist ein Dorf am Fuße des Lichtensteins. 1230 erstmals urkundlich erwähnt (das ist sicher) (ein Herr aus Dorste sagte in Osterode vor Gericht als Zeuge aus). 1482 Einwohner, auch hier einige alt eingesessene Familien, Fachwerkhäuser, Geranien. Im Wohnzimmer der Familie Ernst sitzen Willi Ernst, der Dorfchronist, seine Frau Gisela, Otto Fahlbusch, ebenfalls geschichtlich interessiert, und Helga Klages, die Ortsbürgermeisterin.
"Die Dorster sind vielleicht so ein bisschen zurückhaltender - die Förster schreien schon mal eher: Hurra, was wir erreicht haben und was wir können."
"Im Moment stellen die Förster sich besser: Erstmal haben sie uns die Schulkinder weggeholt. In Förste haben sie einen Arzt, einen Zahnarzt, da haben sie eine Apotheke, da haben sie eine Bank, da haben sie einen Supermarkt - das ist bei uns alles nicht mehr."
"Also es gibt im Lichtenstein die alte Burgruine. Und da ist Treffplatz jedes Jahr: Am Himmelfahrtstag trifft sich Dorste und Förste - sind mittlerweile fröhliche Feste geworden, aber mein Vater erzählte noch: Wir gingen da hin, um uns in die Haare zu kriegen. Da gab es immer Reibereien."
""Dorste und Förste - dazwischen liegen zwei Brücken, und der Großvater meines Mannes hat schon immer gesagt: Diese zwei Brücken, die bedeuten nichts Gutes. Also da muss wohl offensichtlich schon immer … weiß nicht: eine Rivalität zwischen den beiden Ortschaften bestanden haben."
Rückblende. Als der Kreisarchäologe die Knochen aus der Lichtensteinhöhle zu den Anthropologen der Universität Göttingen bringt, stellen die fest: Die DNA der 3000 Jahre alten Gebeine ist so gut erhalten wie Erbgut von einem frischen Tatort um die Ecke! Und weil im Lichtenstein schon lange Menschen siedeln, überlegen die Forscher, ob es in den umliegenden Dörfern möglicherweise noch Nachfahren der Bronzezeit-Vorfahren gibt; immerhin heiratete man früher höchstens einen Tagesmarsch entfernt. An einem Morgen im Januar 2007 bauen sie in einem Klassenzimmer der Förster Schule also Röhrchen und Teststäbchen für Mundschleimhautabstriche auf. Ein weltweit einmaliges Forschungsprojekt, dieser DNA-Test! Und die Förster kommen zahlreich.
"Für mich war es von vornherein klar, dass ich da hingehe."
Bernd Binnewies, ein großer kräftiger Mann, Maurer und seiner Heimat Förste eng verbunden, macht Angaben zu Eltern und Großeltern, nimmt ein steriles Wattestäbchen, gibt seine Speichelprobe ab.
"Das ist doch interessant! Könnte ja sein, dass es Verwandtschaft von uns ist."
"Natürlich bin ich auch hin, ist doch ganz klar, wenn man Ur-Försterin ist!"
Helga Häusler, Bernd Binnewies’ Cousine, macht Angaben zu Eltern und Großeltern, nimmt ein steriles Wattestäbchen, gibt ihre Speichelprobe ab.
"Warum nicht? Ich hatte im Hinterkopf: Wenn du dabei bist, wenn deine Familie betroffen ist … - ist schon eine Sensation!"
In Dorste, sagen Einwohner, habe man erst spät von dem DNA-Test erfahren.
"Irgendwie ist das an einem vorbeigegangen."
"Das orientiert sich auch mehr auf Förste, nicht so auf Dorste. Ich weiß nicht, ob die da nähere Beziehungen hatten."
"Weil es allein in Förste schon war! Und da hatten die das auch mehr publik gemacht, denke ich mal, als hier. Und von daher …"
Am Ende fahren die Forscher mit 273 DNA-Proben zurück nach Göttingen. In Förste - und auch in Dorste - gibt es in diesen Tagen nur ein Gesprächsthema. Alle wollen mit den 3000 Jahre alten Knochen verwandt sein.
"Das ist irgendwo … - ja, ein bisschen Gänsehautgefühl. Wir können von unserer Wohnung direkt zum Lichtenstein gucken, wir haben ungefähr 600 Meter Luftlinie, und es ist irgendwie faszinierend, dass es einerseits so lange her ist und andererseits doch irgendwo Verbindungen zu sehen sind."
"Vielleicht ist es einfach zu sehen: Was ist in der Zeit hier schon passiert? Wo sind die hergekommen? Warum bin ich jetzt hier, was ist da zwischendrin passiert? Ich denke, das ist für die Anwohner schon interessant: wenn tatsächlich jemand aus Dorste dabei ist, der sagt: Mensch, guck mal hier, ich bin Ureinwohner. Wirklich ein Ureinwohner."
"Sie war auch da."
"Ja, ich war auch da. Ich war da die jüngste Teilnehmerin. Ich hatte sogar ein Bild in der Zeitung! Also, mein Vater hat das gesagt und dann sind ich und meine Schwester mitgegangen, weil wir das interessant fanden. Es sind praktisch unsere Vorfahren, also … ein bisschen interessant ist es schon."
"Ich bin seit 1972 bis dato im Standesamt beschäftigt gewesen und saß an der Quelle, aber eigentlich bin ich zu der (Familien-)Forschung gekommen, als ich meine Mutter als Kind irgendwann mal fragte: Mama, warum habe ich den braune Augen und mein Papa blaue? Und warum habe ich braune Haare und die Fröhlich-Linie, das ist mütterlicherseits, die haben alle blaue Augen und blonde Haare? Und dann hat sie mich ein bisschen darauf hingewiesen, auf meine Vorfahren. Da fing das eigentlich schon an … - die Neugier auf meine Familie."
In Förste fahren ein paar Autos die Hauptstraße entlang, ein Junge bremst sein Fahrrad vorm Sportplatz und vor der Sparkasse sitzen ein paar Jugendliche. In Dorste steht eine alte Eiche, ein Hund kläfft, die Straßen sind leer. Und plötzlich tauchen in Förste Reporter auf. Kamerateams!
"Nach dem DNA-Test die Wochen, die waren ganz schön heftig. Jede Woche klingelte ein Fernsehteam an der Tür und wollte am liebsten gleich sofort Interview haben."
"Zu dem Zeitpunkt war ich also… - high! Weil das Fernsehen hier war. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ich wusste, dass sie kommen!"
"Ich denke, man muss nicht immer in erster Reihe stehen, um irgendetwas zu erreichen oder irgendwas zu bedeuten."
In Dorste … - herrscht Ruhe. Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich auf Förste, wo Bernd Binnewies und Helga Häusler, die auch Vorsitzende des örtlichen Arbeitskreises für Kultur, Tradition und Volkskunde ist, Interviews geben; doch auch in Förste fragen sich bald einige, warum andere sich so in den Vordergrund spielen müssen. (Allerdings sagt das niemand ins Mikrophon.)
"Die allgemeine Stimmung war gut, jeder war eigentlich neugierig, keiner war so griesgrämig oder so, eigentlich gar nicht."
Nach einer Weile kehrt wieder Ruhe in den Dörfern ein.
Dann, im Juli, gibt die Anthropologin an der Uni Göttingen eine Pressekonferenz: Bei fünf Männern haben die Forscher auffällige Übereinstimmungen mit der DNA der Bronzezeitknochen entdeckt. Allerdings müssen noch biostatistische Analysen vorgenommen werden, um ganz sicher zu sein, daß die Männer mit den Knochen verwandt sind - bis die Ergebnisse vorliegen, hüllt sich die Anthropologin in Schweigen.
Die Nachricht erreicht Förste.
"Das war schon eine Sensation. Das wäre ja Wahnsinn, wenn da in Förste jemand in Frage käme! Und dann wird Förste womöglich auch noch berühmt und in der Geschichte auch noch erwähnt usw. usf."
Die Nachricht erreicht Dorste.
"Ich denke mal schon, dass wir da mehr Recht drauf haben oder haben uns das bisher immer eingebildet."
"Aber wir haben zu wenig gemacht, die haben sich mehr engagiert als wir."
"Da ist ja die Familie Binnewies …"
Dahinter steht ein Streit von historischer Dimension: Wem gehört der Lichtenstein? Niemand weiß genau, woher dieser Streit rührt, es scheint ihn schon immer gegeben zu haben. Immerhin: rechtlich gehört die Lichtensteinhöhle, dieser inzwischen weltweit bedeutende Fundplatz, heute zu Dorste. Aber Förste liegt näher.
"In den Herzen, möchte ich sagen, gehört der Lichtenstein irgendwie so zu Förste. Auf jeden Fall. Mindestens!"
Bernd Fröhlich, stellvertretender Ortsbürgermeister in Förste (sein ältester Ahn: Johann Friedrich Fröhlich, gestorben 1776).
"Der Lichtenstein gehört zu Dorste, zum Dorster Gebiet."
Helga Klages, die Ortsbürgermeisterin von Dorste (der Vater aus Dorste, die Mutter zugereist, aus Ostfriesland).
"Das ist auch ganz eindeutig dokumentiert: Das Lichtensteingebiet gehört zu Dorste."
"Ich bin auch nicht so, dass ich das den Dorstern nicht gönne, also um Gottes Willen! Aber ich fühle mich als Förster mit dem Lichtenstein so verbunden, als wenn er zu Förste gehörte."
"Der Lichtenstein gehört zu Dorste, und da hat Förste wenig Einfluss drauf. Bloß, die kümmern sich um diese Sache mehr."
"Es ist so, dass ja der Lichtenstein mehr zu Förste hin liegt, und wenn gutes Wetter ist, sehen sie ihn. Und haben ihn nicht. Und wir sehen ihn nicht, aber haben ihn!"
Unterdessen wartet man Göttingen auf die Ergebnisse der biostatistischen Analysen. Die dauern, schließlich hat noch nie jemand Algorithmen für Erbfolgen über 3000 Jahre und rund 100 Generationen berechnet.
Nach einer Weile kehrt wieder Ruhe ein. Oberflächlich. Gemunkelt wird schon, gemutmaßt. Im Schwarzen Bären in Förste trifft sich der Stammtisch (immer montags).
"Die wissen Bescheid, die vom Stammtisch, viele davon. Die haben das schon rausgekriegt: Du bist das, du bist das, ne? Ja, ja, klar! Weiß aber nichts von nichts, so ungefähr."
"Mir ist aufgefallen, wenn ich hier im Dorf einkaufen gehe, so ein, zwei Mal werde ich dann pro Sonnabend gefragt: Was ist denn nun?"
Möchte er, Bernd Binnewies aus Förste, ein Nachfahre sein?
"Ja. Wenn ich ehrlich bin: ja. Aber ich werde es nicht sein, glaube ich nicht."
"Aber du bist ja zweimal belastet, einmal durch deine Mutter, auch eine alt eingesessene Familie, Wedemeyer. Und Binnewies. Und Fröhlich auch noch. Das sind drei alteingesessene Familien, also das muss man sagen: Du bist schwer belastet."
Helga Häusler aus Förste wäre natürlich auch gern mit den Schädeln verwandt. Scheidet aber aus, denn sie ist eine Frau und die "fünf heißen Kandidaten" sind Männer.
Und wie ist die Stimmung in Dorste?
"Weiß ich nicht. Weil ich schon ewig und drei Tage keinen Dorster mehr gesehen und gehört habe."
In Dorste, in seinem Wohnzimmer, sitzt Willi Ernst, der Dorfchronist (der es wissen muss). Er mutmaßt, es werden wohl Förster sein; die Familienlinien passten besser.
Ansonsten herrscht Ruhe, Gelassenheit.
"Das ist schon über 300 Jahre her mit der Höhle, so alt ist das schon."
"3000!"
"Äh, 3000 ja. Dann kommt das auf ein paar Tage auch nicht mehr drauf an."
"Ich werde schon immer mal angesprochen: Du weißt doch bestimmt mehr! Und: Sag doch mal! Ich sage: Ich weiß es nicht. Auch ganz ehrlich: Ich weiß es wirklich nicht!"
Der Kreisarchäologe in Osterode sagt, es gäbe Gespräche. Sonst sagt er nichts.
Die Anthropologin in Göttingen sagt, die Leute stürben wohl nicht vor Neugier, sie bekäme jedenfalls keine ungeduldigen Anrufe. Sonst sagt sie nichts.
Und der Termin, der für September angekündigten Pressekonferenz, auf der die tatsächlichen Nachfahren der prähistorischen Vorfahren endlich vorgestellt werden sollten, verschiebt sich weiter. Weil die Berechnungen wirklich sehr kompliziert sind.
Also malen wir uns jetzt mal den schlimmsten Fall aus: Was, wenn alle Nachfahren aus Dorste stammen, Helga Häusler?
"Wenn es fünf Dorster sind? - In Gottes Namen, sollen sie es sein."
Herr Vizeortsbürgermeister von Förste (der eigentliche Ortsbürgermeister ist in Potsdam und hilft seinem Sohn beim Umzug)?
"Joaa… ich denke, das sehen wir sportlich."
Frau Ortsbürgermeisterin von Dorste: Was, wenn die Nachfahren aus Förste stammen?
"Wer sagt denn, wenn jetzt wirklich ein Förster dieses Los zieht, dass nicht die Vorfahren doch mal in Dorste gelebt haben? Das kann man doch auch nicht ausschließen."
Und so wartet man weiter. In Dorste. In Förste. Und über dem Lichtenstein und den sanften Hügeln des Harzes geht friedlich die Sonne unter.
Die Lichtensteinhöhle liegt in den sanften Hügeln des Harzes. 1972 haben Heimatforscher sie entdeckt. Ein paar Jahre später fanden Höhlenforscher dort Knochen. Der Landkreis ließ eine Eisentür vor die Höhle bauen. 1992 brachen Unbekannte die Tür auf, stahlen Knochen, Schädel, Bronzeschmuck - und nun trat der Kreisarchäologe auf den Plan. Umgehend leitete er eine Grabung in die Wege, um die aus Geldmangel bislang nicht geborgenen Schätze aus dem Lichtenstein zu retten.
Förste ist ein Dorf am Fuße des Lichtensteins. 990 nach Christus erstmals urkundlich erwähnt (oder 840, aber das ist nicht gesichert) – 1920 Einwohner, Fachwerkhäuser, Geranien, ein paar Radfahrer und Fußgänger auf der Hauptstraße. Im Heimatmuseum sitzt Helga Häusler, geborene Binnewies, vor Papieren und Urkunden. Ihre Familie lebt schon lange in Förste. Seit 1535.
"Das war ein Jobst Binneweis, dieser 1535 geborene, das geht aus einer Gerichtsakte hervor. Das war so ein etwas streitbarerer Mitbürger, der musste sich vor Gericht verantworten."
Auch ein Ahn der nächsten Generation musste sich vor Gericht verantworten - wegen Beleidigung eines Amtsmannes.
"Meine Vorfahren … waren sehr … wie soll ich das sagen? Das waren Menschen, die wussten, wo es lang geht, also die waren schon sehr bestimmend, von Vaters Seite her. Und wenn man die Berufe anguckt: Wir haben keine Lehrer und sonst was dabei - immer waren es Maurer. Mein Vater war Maurer, mein Opa war Maurer, sein Vater war Maurer. Wenn Sie noch eins weiter gucken: der heißt Johann Heinrich, geboren 18.6.1786 in Förste - das waren schon richtige, echte Förster. Und wenn Sie noch weiter sehen: Es steht immer Förste, Förste …"
Dorste ist ein Dorf am Fuße des Lichtensteins. 1230 erstmals urkundlich erwähnt (das ist sicher) (ein Herr aus Dorste sagte in Osterode vor Gericht als Zeuge aus). 1482 Einwohner, auch hier einige alt eingesessene Familien, Fachwerkhäuser, Geranien. Im Wohnzimmer der Familie Ernst sitzen Willi Ernst, der Dorfchronist, seine Frau Gisela, Otto Fahlbusch, ebenfalls geschichtlich interessiert, und Helga Klages, die Ortsbürgermeisterin.
"Die Dorster sind vielleicht so ein bisschen zurückhaltender - die Förster schreien schon mal eher: Hurra, was wir erreicht haben und was wir können."
"Im Moment stellen die Förster sich besser: Erstmal haben sie uns die Schulkinder weggeholt. In Förste haben sie einen Arzt, einen Zahnarzt, da haben sie eine Apotheke, da haben sie eine Bank, da haben sie einen Supermarkt - das ist bei uns alles nicht mehr."
"Also es gibt im Lichtenstein die alte Burgruine. Und da ist Treffplatz jedes Jahr: Am Himmelfahrtstag trifft sich Dorste und Förste - sind mittlerweile fröhliche Feste geworden, aber mein Vater erzählte noch: Wir gingen da hin, um uns in die Haare zu kriegen. Da gab es immer Reibereien."
""Dorste und Förste - dazwischen liegen zwei Brücken, und der Großvater meines Mannes hat schon immer gesagt: Diese zwei Brücken, die bedeuten nichts Gutes. Also da muss wohl offensichtlich schon immer … weiß nicht: eine Rivalität zwischen den beiden Ortschaften bestanden haben."
Rückblende. Als der Kreisarchäologe die Knochen aus der Lichtensteinhöhle zu den Anthropologen der Universität Göttingen bringt, stellen die fest: Die DNA der 3000 Jahre alten Gebeine ist so gut erhalten wie Erbgut von einem frischen Tatort um die Ecke! Und weil im Lichtenstein schon lange Menschen siedeln, überlegen die Forscher, ob es in den umliegenden Dörfern möglicherweise noch Nachfahren der Bronzezeit-Vorfahren gibt; immerhin heiratete man früher höchstens einen Tagesmarsch entfernt. An einem Morgen im Januar 2007 bauen sie in einem Klassenzimmer der Förster Schule also Röhrchen und Teststäbchen für Mundschleimhautabstriche auf. Ein weltweit einmaliges Forschungsprojekt, dieser DNA-Test! Und die Förster kommen zahlreich.
"Für mich war es von vornherein klar, dass ich da hingehe."
Bernd Binnewies, ein großer kräftiger Mann, Maurer und seiner Heimat Förste eng verbunden, macht Angaben zu Eltern und Großeltern, nimmt ein steriles Wattestäbchen, gibt seine Speichelprobe ab.
"Das ist doch interessant! Könnte ja sein, dass es Verwandtschaft von uns ist."
"Natürlich bin ich auch hin, ist doch ganz klar, wenn man Ur-Försterin ist!"
Helga Häusler, Bernd Binnewies’ Cousine, macht Angaben zu Eltern und Großeltern, nimmt ein steriles Wattestäbchen, gibt ihre Speichelprobe ab.
"Warum nicht? Ich hatte im Hinterkopf: Wenn du dabei bist, wenn deine Familie betroffen ist … - ist schon eine Sensation!"
In Dorste, sagen Einwohner, habe man erst spät von dem DNA-Test erfahren.
"Irgendwie ist das an einem vorbeigegangen."
"Das orientiert sich auch mehr auf Förste, nicht so auf Dorste. Ich weiß nicht, ob die da nähere Beziehungen hatten."
"Weil es allein in Förste schon war! Und da hatten die das auch mehr publik gemacht, denke ich mal, als hier. Und von daher …"
Am Ende fahren die Forscher mit 273 DNA-Proben zurück nach Göttingen. In Förste - und auch in Dorste - gibt es in diesen Tagen nur ein Gesprächsthema. Alle wollen mit den 3000 Jahre alten Knochen verwandt sein.
"Das ist irgendwo … - ja, ein bisschen Gänsehautgefühl. Wir können von unserer Wohnung direkt zum Lichtenstein gucken, wir haben ungefähr 600 Meter Luftlinie, und es ist irgendwie faszinierend, dass es einerseits so lange her ist und andererseits doch irgendwo Verbindungen zu sehen sind."
"Vielleicht ist es einfach zu sehen: Was ist in der Zeit hier schon passiert? Wo sind die hergekommen? Warum bin ich jetzt hier, was ist da zwischendrin passiert? Ich denke, das ist für die Anwohner schon interessant: wenn tatsächlich jemand aus Dorste dabei ist, der sagt: Mensch, guck mal hier, ich bin Ureinwohner. Wirklich ein Ureinwohner."
"Sie war auch da."
"Ja, ich war auch da. Ich war da die jüngste Teilnehmerin. Ich hatte sogar ein Bild in der Zeitung! Also, mein Vater hat das gesagt und dann sind ich und meine Schwester mitgegangen, weil wir das interessant fanden. Es sind praktisch unsere Vorfahren, also … ein bisschen interessant ist es schon."
"Ich bin seit 1972 bis dato im Standesamt beschäftigt gewesen und saß an der Quelle, aber eigentlich bin ich zu der (Familien-)Forschung gekommen, als ich meine Mutter als Kind irgendwann mal fragte: Mama, warum habe ich den braune Augen und mein Papa blaue? Und warum habe ich braune Haare und die Fröhlich-Linie, das ist mütterlicherseits, die haben alle blaue Augen und blonde Haare? Und dann hat sie mich ein bisschen darauf hingewiesen, auf meine Vorfahren. Da fing das eigentlich schon an … - die Neugier auf meine Familie."
In Förste fahren ein paar Autos die Hauptstraße entlang, ein Junge bremst sein Fahrrad vorm Sportplatz und vor der Sparkasse sitzen ein paar Jugendliche. In Dorste steht eine alte Eiche, ein Hund kläfft, die Straßen sind leer. Und plötzlich tauchen in Förste Reporter auf. Kamerateams!
"Nach dem DNA-Test die Wochen, die waren ganz schön heftig. Jede Woche klingelte ein Fernsehteam an der Tür und wollte am liebsten gleich sofort Interview haben."
"Zu dem Zeitpunkt war ich also… - high! Weil das Fernsehen hier war. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ich wusste, dass sie kommen!"
"Ich denke, man muss nicht immer in erster Reihe stehen, um irgendetwas zu erreichen oder irgendwas zu bedeuten."
In Dorste … - herrscht Ruhe. Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich auf Förste, wo Bernd Binnewies und Helga Häusler, die auch Vorsitzende des örtlichen Arbeitskreises für Kultur, Tradition und Volkskunde ist, Interviews geben; doch auch in Förste fragen sich bald einige, warum andere sich so in den Vordergrund spielen müssen. (Allerdings sagt das niemand ins Mikrophon.)
"Die allgemeine Stimmung war gut, jeder war eigentlich neugierig, keiner war so griesgrämig oder so, eigentlich gar nicht."
Nach einer Weile kehrt wieder Ruhe in den Dörfern ein.
Dann, im Juli, gibt die Anthropologin an der Uni Göttingen eine Pressekonferenz: Bei fünf Männern haben die Forscher auffällige Übereinstimmungen mit der DNA der Bronzezeitknochen entdeckt. Allerdings müssen noch biostatistische Analysen vorgenommen werden, um ganz sicher zu sein, daß die Männer mit den Knochen verwandt sind - bis die Ergebnisse vorliegen, hüllt sich die Anthropologin in Schweigen.
Die Nachricht erreicht Förste.
"Das war schon eine Sensation. Das wäre ja Wahnsinn, wenn da in Förste jemand in Frage käme! Und dann wird Förste womöglich auch noch berühmt und in der Geschichte auch noch erwähnt usw. usf."
Die Nachricht erreicht Dorste.
"Ich denke mal schon, dass wir da mehr Recht drauf haben oder haben uns das bisher immer eingebildet."
"Aber wir haben zu wenig gemacht, die haben sich mehr engagiert als wir."
"Da ist ja die Familie Binnewies …"
Dahinter steht ein Streit von historischer Dimension: Wem gehört der Lichtenstein? Niemand weiß genau, woher dieser Streit rührt, es scheint ihn schon immer gegeben zu haben. Immerhin: rechtlich gehört die Lichtensteinhöhle, dieser inzwischen weltweit bedeutende Fundplatz, heute zu Dorste. Aber Förste liegt näher.
"In den Herzen, möchte ich sagen, gehört der Lichtenstein irgendwie so zu Förste. Auf jeden Fall. Mindestens!"
Bernd Fröhlich, stellvertretender Ortsbürgermeister in Förste (sein ältester Ahn: Johann Friedrich Fröhlich, gestorben 1776).
"Der Lichtenstein gehört zu Dorste, zum Dorster Gebiet."
Helga Klages, die Ortsbürgermeisterin von Dorste (der Vater aus Dorste, die Mutter zugereist, aus Ostfriesland).
"Das ist auch ganz eindeutig dokumentiert: Das Lichtensteingebiet gehört zu Dorste."
"Ich bin auch nicht so, dass ich das den Dorstern nicht gönne, also um Gottes Willen! Aber ich fühle mich als Förster mit dem Lichtenstein so verbunden, als wenn er zu Förste gehörte."
"Der Lichtenstein gehört zu Dorste, und da hat Förste wenig Einfluss drauf. Bloß, die kümmern sich um diese Sache mehr."
"Es ist so, dass ja der Lichtenstein mehr zu Förste hin liegt, und wenn gutes Wetter ist, sehen sie ihn. Und haben ihn nicht. Und wir sehen ihn nicht, aber haben ihn!"
Unterdessen wartet man Göttingen auf die Ergebnisse der biostatistischen Analysen. Die dauern, schließlich hat noch nie jemand Algorithmen für Erbfolgen über 3000 Jahre und rund 100 Generationen berechnet.
Nach einer Weile kehrt wieder Ruhe ein. Oberflächlich. Gemunkelt wird schon, gemutmaßt. Im Schwarzen Bären in Förste trifft sich der Stammtisch (immer montags).
"Die wissen Bescheid, die vom Stammtisch, viele davon. Die haben das schon rausgekriegt: Du bist das, du bist das, ne? Ja, ja, klar! Weiß aber nichts von nichts, so ungefähr."
"Mir ist aufgefallen, wenn ich hier im Dorf einkaufen gehe, so ein, zwei Mal werde ich dann pro Sonnabend gefragt: Was ist denn nun?"
Möchte er, Bernd Binnewies aus Förste, ein Nachfahre sein?
"Ja. Wenn ich ehrlich bin: ja. Aber ich werde es nicht sein, glaube ich nicht."
"Aber du bist ja zweimal belastet, einmal durch deine Mutter, auch eine alt eingesessene Familie, Wedemeyer. Und Binnewies. Und Fröhlich auch noch. Das sind drei alteingesessene Familien, also das muss man sagen: Du bist schwer belastet."
Helga Häusler aus Förste wäre natürlich auch gern mit den Schädeln verwandt. Scheidet aber aus, denn sie ist eine Frau und die "fünf heißen Kandidaten" sind Männer.
Und wie ist die Stimmung in Dorste?
"Weiß ich nicht. Weil ich schon ewig und drei Tage keinen Dorster mehr gesehen und gehört habe."
In Dorste, in seinem Wohnzimmer, sitzt Willi Ernst, der Dorfchronist (der es wissen muss). Er mutmaßt, es werden wohl Förster sein; die Familienlinien passten besser.
Ansonsten herrscht Ruhe, Gelassenheit.
"Das ist schon über 300 Jahre her mit der Höhle, so alt ist das schon."
"3000!"
"Äh, 3000 ja. Dann kommt das auf ein paar Tage auch nicht mehr drauf an."
"Ich werde schon immer mal angesprochen: Du weißt doch bestimmt mehr! Und: Sag doch mal! Ich sage: Ich weiß es nicht. Auch ganz ehrlich: Ich weiß es wirklich nicht!"
Der Kreisarchäologe in Osterode sagt, es gäbe Gespräche. Sonst sagt er nichts.
Die Anthropologin in Göttingen sagt, die Leute stürben wohl nicht vor Neugier, sie bekäme jedenfalls keine ungeduldigen Anrufe. Sonst sagt sie nichts.
Und der Termin, der für September angekündigten Pressekonferenz, auf der die tatsächlichen Nachfahren der prähistorischen Vorfahren endlich vorgestellt werden sollten, verschiebt sich weiter. Weil die Berechnungen wirklich sehr kompliziert sind.
Also malen wir uns jetzt mal den schlimmsten Fall aus: Was, wenn alle Nachfahren aus Dorste stammen, Helga Häusler?
"Wenn es fünf Dorster sind? - In Gottes Namen, sollen sie es sein."
Herr Vizeortsbürgermeister von Förste (der eigentliche Ortsbürgermeister ist in Potsdam und hilft seinem Sohn beim Umzug)?
"Joaa… ich denke, das sehen wir sportlich."
Frau Ortsbürgermeisterin von Dorste: Was, wenn die Nachfahren aus Förste stammen?
"Wer sagt denn, wenn jetzt wirklich ein Förster dieses Los zieht, dass nicht die Vorfahren doch mal in Dorste gelebt haben? Das kann man doch auch nicht ausschließen."
Und so wartet man weiter. In Dorste. In Förste. Und über dem Lichtenstein und den sanften Hügeln des Harzes geht friedlich die Sonne unter.