Die Unterschicht

Von Karl-Heinz Gehm |
Ein Gespenst geht wieder einmal um: die Unterschicht. Ein ach so garstiger Begriff mit besten Chancen zum Unwort des Jahres. Ein Wort, das die politische Klasse hierzulande meidet wie der Teufel das Weihwasser, weil es doch allerhand Sprengsätze in sich birgt.
Denn schließlich will keiner stigmatisieren und sich’s vollends verderben mit dem Wahlvolk. Vor allem aber will niemand Schuld sein an der Existenz und dem Wuchern eben dieser Untersicht.

Um den auf dem politischen Index stehenden Begriff Unterschicht zu vermeiden und doch die Malaise zu beschreiben, sind kühne Verrenkungen angesagt. Da ist vom "abgehängten Prekariat" die Rede, zwanzig Prozent im Osten und vier Prozent im Westen, von jenen also, die zu kurz gekommen, die ohne Chance auf Aufstieg sind und gegen das Elend nicht einmal mehr aufbegehren.

Die Unterschicht, Marx ist tot, ist eben nicht das Proletariat, das seine Arbeitskraft verkauft. Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt findet sich allzu oft kein Käufer mehr. Die Wahrheit ist brutal und heißt: keine Arbeit, kein Geld, keine Chance. Die Unterschicht als Subproletariat: Armut und Arbeitslosigkeit gepaart mit Hoffnungslosigkeit querbeet durch die Gesellschaft vom Ungelernten über den Facharbeiter, der nicht gebraucht wird, bis zum Hochschulabsolventen mit seiner Hundertschaft ergebnisloser Bewerbungen.

Eines verbindet diese Verlierer und Verweigerer im Zeitalter des digitalen Kapitalismus: prekäre Lebenslage, soziale Lethargie, eine Mischung aus Lähmung und Verzweiflung. Die Zweidrittelgesellschaft? Das war einmal. Heute sind die Strukturen schärfer, die Konsequenzen erbarmungsloser.

Die politische Klasse aber erschöpft sich vor allem in Schuldzuweisungen, innerparteilichen Grabenkämpfen und unzureichenden Konzepten. Mag sein, dass die SPD-Linke noch lebt, aber eben nicht auf der Höhe der Zeit. Fordern und Fördern als politische Lebenslüge der Schröderschen Hartz-IV-Ära, wo es doch angesichts eines zertrümmerten Arbeitsmarktes mit Niedrigstlöhen und Ich-AGs nichts zu fördern gibt - ach ja, Polemik ist das allemal, aber keine Konzeption.

Und die Union mit ihrer Sanktionsmechanik. Die mag Stammtische besänftigen, soziale Befriedung aber schließt sie aus.

Also bleibt der fürs erste die beiden Volksparteien einende, verzweifelte Ruf nach dem vorsorgenden Sozialstaat. Realistische Vorgaben aber, das wissen beide, stehen nicht einmal auf dem Papier.