Die Unsichtbaren

Von Bettina Kaps · 14.06.2009
Sie kommen aus Afghanistan, Palästina, Eritrea oder anderswo in der Welt: Die Flüchtlinge, die im "Dschungel" genannten Niemandsland von Calais zwischen Hafen und Industriegebiet hausen, kennen nur ein Ziel: Rüberkommen nach England. Von der Polizei verfolgt und zum Teil misshandelt, finden sich jedoch immer wieder Menschen, die ihnen helfen oder sie mit Essen versorgen.
Dorniges Gestrüpp, ein sandiger Trampelpfad. Der Boden ist mit Abfall übersät: Plastiktüten, Eierschalen, Bierdosen, Klopapier, Exkremente. Dann der erste Unterschlupf: Auf der Erde liegen Paletten, darüber sind Plastikplanen gespannt, sie sind an den Sträuchern befestigt. Vor der Hütte kauern fünf Männer, wärmen sich am Feuer. Einer trägt ein schwarz-weißes Palästinensertuch über dem schwarzen Anorak, dicke Handschuhe, und spricht Englisch.

"Wir kommen aus Afghanistan, ich bin seit etwa acht Tagen hier in Calais. Wir alle wollen nach England. Ich habe schon versucht, mich in einem Laster zu verstecken, aber es hat nicht geklappt. Es gibt zu viele Checkpoints, wo sie uns rausholen. Dann bringen sie uns zur Polizeiwache, machen Fotos, nehmen Fingerabdrücke, und lassen uns wieder laufen."

Ali stammt aus der Provinz Ghazni, an der Grenze zu Pakistan. Der 24-Jährige ist vor den Taliban geflohen. Stationen seiner Reise: Pakistan, Iran, Türkei, Griechenland, Italien, jetzt Frankreich. Dass er ausgerechnet in Calais so elendig leben muss, hat er nicht geahnt. Das Niemandsland der Flüchtlinge wird der "Dschungel" genannt - ein treffender Name. Es liegt kurz vor dem Hafen von Calais, zwischen Schnellstraße, Chemiefabrik und dem Ärmelkanal.

Ali: "Die Polizei kommt zwei oder drei Mal pro Woche hierher. Manchmal auch täglich. Sie nimmt Flüchtlinge mit, oder versprüht Tränengas. Hier steht eine Hütte, in die sie schon vor zwei Wochen Gas gesprüht haben. Niemand kann dort schlafen, weil es immer noch in den Augen beißt. Die Polizei will uns vertreiben. Aber wir müssen in Calais bleiben, weil wir noch diese letzte Grenze überwinden müssen. Es gibt kein Zurück für uns, wir müssen weiter."

Der Pfad führt tiefer ins Gehölz, gabelt sich. An den dürren Zweigen hängen verblichene orange Beeren. Alle paar Schritte sind weitere Hütten zu sehen. An einem Ast flattern Unterwäsche und ein Handtuch im Wind.

Wieder ein Feuer, darum ist eine Familie geschart. Die Frau sitzt auf einem Rollkoffer. Sie hat einen braunen Schal locker um den Kopf geschlungen, in ihrem Gesicht fallen die akkurat gezupften Augenbrauen auf. Der Mann ist rasiert. Die drei Kinder stecken in dicken Pullovern und Gummistiefeln. Sie essen Schmelzkäse, ihre Hände sind von Erde und Ruß geschwärzt.

Die Mutter hält Feuchttücher in der Hand. Unablässig wischt sie über die kleinen Münder und Finger. So als ob sie die Kinder vor dem ganzen Dreck und Elend um sie herum beschützen will. Eine Tochter lacht, sie hat Zahnlücken. Die Mutter zeigt das Alter ihrer Kinder mit den Fingern an: Sie sind 4, 5 und 6 Jahre alt.

Jenseits der Schnellstraße, zwischen einer Chemiefabrik und einer Wohnsiedlung, liegt ein weiteres Niemandsland. Auf einem Grünstreifen kampieren Afghanen, auf einem anderen Iraker. Die Volksgruppen mischen sich nicht. An einem Baum hängt eine weiße Banderole mit einer fremdsprachigen Inschrift, davor liegen zwei Sträuße mit Plastikblumen: An dieser Stelle wurde ein Flüchtling erstochen. Niemand weiß, wer im Dschungel die Regeln bestimmt, und niemand zählt, wie viele Menschen hier leben, es müssen Hunderte sein. Täglich kommen Neue hinzu und andere verschwinden.

Die Afrikaner leben nicht im Dschungel, sie sind in der Stadt untergeschlüpft. Am Hafen steht eine Lagerhalle der Industrie- und Handelskammer. Auf der Laderampe hausen ein paar Dutzend Männer. Sie kommen aus Somalia, Sudan, Äthiopien. Auch diese Flüchtlinge haben Verschläge gebaut. Von dort aus sehen sie das Hafenbecken, sehen, wie die Fähren an- und ablegen. Jetzt ankert die "Moliere" am Kai.

Ein paar Straßen weiter haben Eritreer ein ehemaliges Arbeiterwohnhaus besetzt. Die drei Eingänge sind verriegelt, die Rollos zugezogen und die Kellerfenster mit Lumpen verstopft. Im Hinterhof häuft sich Unrat, es stinkt nach Urin. Dort sind Polizisten. Der Kommissar zeigt auf den Boden. Er macht keine Jagd auf Ausländer, er will ein Verbrechen aufklären.

"Ich weiß nicht, ob es einen Zusammenhang gibt, aber da ist ein Blutfleck und dort, auf dem Holzscheit, auch. Heute Nacht gab es hier eine Schlägerei mit einem Verletzten, er hat Messerstiche im Unterleib, das kommt oft vor. Die Ursache finden wir selten heraus. Vielleicht ein Streit unter Schleppern oder unter verschiedenen Volksgruppen."

Der Polizeifotograf macht Aufnahmen vom Tatort. Unterdessen geht eine junge Frau ins Haus, steigt die Treppe hoch. Mariam trägt eine weiße Windjacke mit der Aufschrift Secours Catholique, so heißt die Caritas in Frankreich. Sie klopft, schiebt die Tür auf, ruft auf Arabisch ins Zimmer. Acht junge Frauen stehen sofort von ihren Decken auf, ziehen Mäntel über, folgen Mariam ins Freie. Zwei Männer schließen sich an, einer geht mit Krücken. Mariam sperrt ihren Kleinbus auf. Die Frauen steigen ein, der verletzte Mann darf auch mitfahren, den anderen schickt sie zurück.

"Wir können nicht alle Migranten abholen. Den jungen Mann da nehme ich mit, damit er ein bisschen im Warmen sein kann."

Mariam fährt die Eritreer zum Stadtrand von Calais, wo die Caritas in ein ehemaliges Geschäft eingezogen ist. Im Wohnraum steht ein langer Tisch mit karierter Wachstuchdecke, ein altes Sofa, ein Regal mit Monopoly und anderen Spielen. In der Küche sind zwei Helferinnen am Werk. Sie kochen Tee für die Flüchtlinge und tauschen Neuigkeiten aus.

"Sie reichen eine Petition herum?"
"Ja, die Nachbarn im Viertel wollen verhindern, dass die Migranten hier den Tag verbringen. Das stört die Anwohner. Sie wollen das Elend nicht sehen."

Die Eritreerinnen kümmert das nicht. Sie ziehen Zahnbürsten und Zahnpasta hervor und stehen vor der Toilette mit dem Waschbecken an. Nachdem sie sich frisch gemacht haben, trinken sie den Tee. Da ist Ouadiou, die ihre schwarze Wollmütze auch im Zimmer noch auf dem Kopf behält. Sie hat die Flucht mit ihrem zehnjährigen Sohn angetreten. Abraham, ein molliges Kind, sitzt über einem Blatt und zeichnet die Flagge von Eritrea. Salama trägt eine Jogginghose, sie ist im sechsten Monat schwanger.

Der junge Mann mit dem Gipsfuß stellt auf seinem Handy Musik an. Er ist aus einem Laster gesprungen, der in die falsche Richtung fuhr, dabei hat er sich den Knöchel gebrochen. Salama schließt die Augen und wiegt sich im Rhythmus der Melodie aus der Heimat.

Mariam schaut die kleine Gruppe an. Am liebsten will sie alle Flüchtlinge in ihrem kleinen Bus ins Warme bringen. Weil das unmöglich ist, kümmert sie sich um die Schwächsten: um Frauen, Kinder und Verletzte.

"Unser Ziel hier: Wir wollen ihnen klar machen, es gibt nicht nur England, es gibt auch andere Möglichkeiten. Sie können in Frankreich Asyl beantragen. Die Flüchtlinge werden ständig von Schleppern verfolgt, und die hämmern ihnen ein: Ihr müsst nach Großbritannien. Deshalb wollen wir sie von diesen Leuten entfernen."

Flüchtlinge aus Eritrea, Sudan oder Afghanistan haben durchaus Chancen, in Frankreich politisches Asyl zu erhalten. Aber die Migranten sind auf Großbritannien fixiert: Dort, so glauben sie, gibt es wenig Kontrollen und genug Arbeit für sie. Einige haben Kontakte im Land, außerdem sprechen die meisten ein paar Brocken englisch. Dass das Königreich jetzt tief in der Wirtschaftskrise steckt, hat sich noch nicht herumgesprochen. In Calais können sie bei gutem Wetter schon die Lichter von Dover erkennen. Um die 34 Kilometer bis nach England zu überwinden, sind sie zu fast allem bereit.

"Gestern war eine Frau hier, die im achten Monat schwanger ist. Ich habe auf sie eingeredet, sie gewarnt: Du läufst Gefahr, in einem Laster zu entbinden. Sie war kurz davor, ja zu sagen und in Frankreich Asyl zu beantragen. Aber dann hat sie vergangene Nacht in dem besetzen Haus geschlafen, und jetzt ist sie verschwunden, jetzt versucht sie es. Ich denke ununterbrochen an sie. Hoffentlich geschieht ihr kein Unglück, hoffentlich bekommt sie keine Wehen, hoffentlich, hoffentlich!"

Mariam steht auf, nimmt ihren Mantel, geht zum Auto. Im Dschungel campieren drei junge Afghanen, sie sind 11 und 12 Jahre alt. Wenigsten die will sie jetzt auch noch holen.

Für "Gesichter Europas": Flüchtlingselend in Calais 1Das Hafengelände schirmen hohe weiße Metallzäune ab, sie sehen harmlos aus, nur ganz oben ist ein Stacheldraht zwischen die Pfosten gespannt. Durch die Streben sieht man den LKW-Verkehr: Pausenlos rollen die Schwerlaster über die Fahrbahnen, kriechen im Schneckentempo Rampen und Brücken hoch, fädeln sich in die Spuren vor den Kontrollhäuschen ein. Neben jedem Checkpoint steht ein hoher Pfosten, daran flattert die Trikolore im Wind. In der Ferne ragt der Schornstein einer Fähre empor. Polizei ist nicht zu sehen.

Die letzte große Tankstelle vor dem Hafen liegt im Industriegebiet von Calais. Ein Dutzend LKW rasten an diesem Abend auf dem Parkplatz, sie kommen aus Polen, Spanien, Italien. An der Zapfsäule hält ein Lastwagen mit grauer Fahrerkabine und blauer Plane: "Pema Truck- und Trailorvermietung" steht darauf und das Kennzeichen ist deutsch. Der Fahrer tankt in aller Ruhe: Hans-Erich Israel transportiert Wegwerfbecher von Schottland in die Schweiz. Auf dieser Route kann ihm nichts passieren, sagt er. Andersherum, in Richtung Großbritannien, hält er außerhalb des Hafens nicht mehr an.

"Man muss hier unwahrscheinlich aufpassen. Mindestens im Umkreis von 100 Kilometern darf man nicht Stopp machen, ob man für kleine Jungs muss oder sonst was, dann hat man die sofort drauf und dann gibt's Ärger. Und wenn die in England ankommen - 3.000 Pfund pro Nase, das kann sich keiner leisten."

Israel schüttelt besorgt den Kopf. Er strahlt Gemütlichkeit aus mit seinen silberweißen Haaren, dem kurz gestutzten weißen Vollbart und einem runden Bauch, über dem locker ein grün-weißes Karohemd hängt. 57 Jahre ist er alt, und seit 15 Jahren fährt er diese Strecke, neuerdings sogar jede Woche. Aber die Migranten stören seine Routine und gefährlich werden kann es hier auch.

"In den letzten 3 Monaten waren das acht Mann gewesen, die ich da hatte, immer so verschieden aufgeteilt. Und wenn man selbst rangeht und will die runterjagen, muss man aufpassen, dass man nicht was zwischen die Rippen kriegt."

Israel schließt den Tankdeckel ab, geht in die Raststätte, zahlt. Die Flüchtlinge, erzählt er dabei, sind gleich hinter Brüssel eingestiegen, als er die vorgeschriebene Fahrpause einlegen musste und beim Duschen war. Sie wurden im Hafen entdeckt, aber da hatten sie schon auf die Kartons uriniert, und die Ladung Babywindeln war im Eimer. Er musste umdrehen und die Fuhre zurückbringen, das wurmt ihn immer noch, schließlich ist er für die Ware verantwortlich. Er zieht sich einen Kaffee am Automaten, steigt in die Fahrerkabine.

Nicht auffallen, sagt Israel, ist die beste Taktik, um den Stichproben am Hafen zu entgehen. Deshalb trägt sein 40-Tonner auch keine Werbung auf der Plane. Aber wer einmal Flüchtlinge in den Hafen geschleppt hat, wird beim nächsten Mal gleich strenger kontrolliert.

"Immer wird gemacht, wenn ich reinkomme: erstmal meine Dokumente abgeben, dann muss ich ganz vorsichtig und sachte durch eine Sichtanlage, da wird schnell geröntgt, ob was drunter ist. Dann kommt die CO2-Prüfung, und wenn die nichts ergeben hat, dann müssen wir in einen Schuppen rein fahren, als Fahrer aussteigen, dann werden Messgeräte aufgelegt und dann können die hören, ob da Herztöne sind. Und wenn es ganz hart kommt, so wie ich das hatte, wo ich durch den Tunnel bin, da ist dann eine Röntgenanlage und wen sie vorher nicht gekriegt haben, denn kriegen sie spätestens dann. Da sehen sie alles: Zigaretten, Schnaps. Wer bis dahin gekommen ist, den kannste dann sowieso wegschmeißen, der ist kaputt, die Strahlen sind so stark, der setzt nischt mehr in die Welt. Da hat sich's erledigt bei dem. Das ist dann hart."

Israel stammt aus Demmin an der Peene, in Vorpommern. Er lernt Müller, ist dann Militärkraftfahrer bei der Volksarmee, und arbeitet schließlich als Busfahrer in Ost-Berlin. Nach der Wende ist er neugierig auf Europa - so wird er Berufskraftfahrer. Auf den Rastplätzen und Autobahnen rund um Calais sieht er nun Menschen aus ganz fernen Ländern, aber die herumirrenden Gestalten am Straßenrand flößen ihm keine Neugier und erst recht kein Mitleid ein.

"Wir haben auch 'ne Revolution gemacht. Sollen sie ihren Arsch - hätte ich beinah gesagt - bewegen und dafür sorgen, dass es bei ihnen auch besser geht, oder nicht? Wenn die es besser haben wollen, sollen sie auch was dafür tun!"

Die französische Grenzpolizei greift hart zu, erzählt er, und plötzlich klingt die Stimme des Fernfahrers nicht mehr so gemütlich.

"Wenn die sagen 'absteigen' und der eine macht noch Sperenzchen, dann wird gleich zugelangt. Zack, gleich richtig an die Kandare genommen, wie sich das gehört. Er hat doch die Scheiße gebaut. Selbst die Polizei muss damit rechnen, dass sie angegriffen wird, die haben ja Messer und so 'nen Scheiß bei sich und einige davon sind ja richtig dreiste Typen."

Israel findet, dass die Grenzer noch um einiges brutaler vorgehen sollen, damit sich die Nachricht davon bis ins Ausland verbreitet und die Migranten so abschreckt, dass sie gar nicht erst nach Europa kommen. Dann grinst er wieder vergnügt. Ihm fallen Geschichten von den Kollegen ein.

Die Osteuropäer, erzählt er, sind bekannt dafür, dass sie mit allem handeln. Einige haben sich auch auf Menschenschmuggel eingelassen, aber dafür sind sie in England ins Gefängnis gekommen. Das ist es nicht wert, sagt Israel, wirft den Motor an und fährt los.

Im Herzen von Calais steht groß und prächtig das rote Backsteinrathaus mit dem flämischen Glockenturm. Nur wenige Straßen entfernt liegt die Rue de la Pomme d´Or. Hier, in der Straße des Goldenen Apfels, sind die Häuser einfach und sauber, die Fassaden sind gelb, rosa oder blau verputzt und an den Fenstern hängen Spitzengardinen. Es ist heller Vormittag. Doch im Erdgeschoß eines schmalen Hauses sind beide Fenster mit Plastikrollos verdunkelt.

Drinnen brennt Licht. In der Wohnküche steht Mireille Lecoustre am Waschbecken und spült.

"Ich bin ein bisschen im Verzug mit dem Geschirr. Sie wollten selber spülen, aber sie waren so schwach. Da hab ich gesagt: lasst es bleiben, ich mache das in der Früh für euch, ruht euch nur aus! Ich hab doch Zeit."

Mireille nimmt ein Glas in die Hand, wischt es energisch aus. Sie ist klein und drahtig, die rotbraunen, dauergewellten Haare sind noch ungekämmt, und obwohl es bullig warm ist, trägt sie eine dicke Wolljacke über der Jeans. Die Tür zum Zimmer mit den geschlossenen Jalousien steht offen, es ist ihr Wohn- und Schlafraum zugleich: Ein Klappsofa ist zu sehen, ihr Bett, da schläft jetzt ein fremder Mann darauf. Gegenüber steht die Liege ihres jüngsten Sohns, außerdem ein Wandregal, der Fernseher, ein Vogelkäfig ...

Tisch und Stühle hat jemand an die Wand geschoben, um die Steppdecken auszubreiten. Drei Gestalten liegen auf dem Boden, sie haben sich eingemummelt, ihre Wolldecken bis über die Köpfe gezogen, so als ob sie sich verstecken wollen, nur aus einem der Nachtlager lugt ein Büschel schwarzer Haare hervor. Mireille schüttelt besorgt den Kopf.

"Die Nacht war schlimm für sie. Da sind sie Polizisten in die Arme gelaufen oder Wachleuten, jedenfalls mussten sie immer ganz schnell wegrennen. Als sie um 5 Uhr zu mir kamen, haben sie gleich Aspirin geschluckt, damit die Muskeln nicht so schmerzen. Ich lasse die Schachtel extra auf dem Tisch stehen. Die müssen ja so viel rennen! Und dann, eine Viertelstunde später, haben sie schon geschnarcht."

Zehn Jahre ist es jetzt her, dass Mireille die ersten Flüchtlinge beherbergt hat. Seither wird es in der Zwei-Zimmer-Wohnung selten leer. Zuerst nimmt sie Kosovaren auf, die vor dem Krieg geflüchtet waren. Heute schlafen Afghanen, Pakistani und Palästinenser bei ihr, manchmal wird auch die Küche voll. Vor allem Kranke und Geschwächte, sagt sie, suchen bei ihr Zuflucht. Die Männer reichen sich die gute Adresse weiter.

"Im Winter ist es besonders hart für sie. Wenn sie Grippe oder Durchfall haben, gebe ich ihnen Medikamente und sie bleiben zwei, drei Wochen bei mir im Warmen, um gesund zu werden. Manche ruhen sich auch länger aus, vor allem jene, die einen Gipsfuß haben. Sobald sich einer der Jungs erholt hat, sagt er: Mamie - so nennen sich mich, für sie bin ich wie eine Großmutter - Mamie, mir geht es wieder gut. Dann sag ich: Geh zu, mein Junge, versuch dein Glück, Inschallah. Und später sehe ich ihn am Hafen wieder. Er ist also immer noch da, aber zumindest steht er wieder fest auf beiden Beinen."

Mireille ist 55 Jahre alt, sie sieht verhärmt aus. Die Arbeit im Holzhandel und am Fließband der Biskuitfabrik hat Spuren hinterlassen. Die Firmen haben zugemacht. Heute lebt Mireille von Sozialhilfe, wie 6.000 Menschen in dieser Stadt.

Mireille hat elf Kinder großgezogen und ist geschieden. Nur der 15-jährige Kevin wohnt noch zuhause, die Größeren haben eigene Familien gegründet, 17 Enkelkinder sind geboren. Jetzt, da sie nur noch für den Jüngsten sorgen muss, sind die Flüchtlinge ihr Lebensinhalt.

"Ich versetze mich in die Lage dieser jungen Leute. Ich stelle mir vor: Wir haben hier in Calais ein großes Problem und mein Sohn flieht - sagen wir mal - in die Schweiz, um Schutz zu suchen - dann bin ich doch auch froh, wenn er auf eine großzügige Familie stößt, die Mitleid empfindet mit einem jungen Kerl, der sein Land verlassen hat, um Frieden zu finden und nicht getötet zu werden."

Mireille presst die Lippen zusammen, ihr Mund wird schmal, zwei tiefe Falten ziehen sich zum Kinn hinunter. Sie weiß, dass sie sich strafbar macht: Hilfe für Ausländer ohne gültige Papiere kann mit fünf Jahren Haft und 30.000 Euro Geldstrafe geahndet werden. Das Gesetz, sagt sie, bringt sie nicht von ihrer Überzeugung ab, was gut und richtig ist. Eher sitzt sie eine Gefängnisstrafe ab.

Die Nachbarn beschweren sich nicht, weil Mireille für Ruhe sorgt. Sie nimmt grundsätzlich keine Frauen auf, um elf Uhr abends wird geschlafen, und dem Vermieter zahlt sie einen Zuschlag zum Wasser, denn die Flüchtlinge stehen gerne unter ihrer heißen Dusche.

Mireille zeigt auf den Tisch mit der Wachstuchdecke: Ein abgenutztes Kartenspiel liegt darauf und eine DVD-Kassette: Am Abend hat sie mit den Afghanen Mister Bean geschaut, hat mit ihnen gelacht, um sie abzulenken. Denn auch Sorgen machen krank.

"Wenn die Polizei wenigstens ein bisschen netter wäre ... Aber im Moment haben wir richtig boshafte Bereitschaftspolizisten, die sind nicht von hier. Gewiss tun sie ihre Pflicht, aber einige sind Rassisten. Die behandeln die Illegalen wie Dreck, lassen Rottweiler auf sie los, packen sie an den Haaren und treten mit ihren schweren schwarzen Stiefeln auf sie ein. Wenn die jungen Kerle dann zu mir kommen, hole ich gleich die Salbe hervor, ich habe 15 Tuben auf Vorrat gekauft, denn das sind keine kleinen Blutergüsse, die sind groß wie eine Schöpfkelle und richtig schmerzhaft."

Mireille hat keine Fremdsprache gelernt, aber die Illegalen versteht sie gut. Vieles liest sie ihnen am Gesicht ab, außerdem hat sie ein paar Brocken Englisch aufgeschnappt, manchmal übersetzt Kevin. Ihr Sohn kann sogar schon ein bisschen Paschtu, sagt sie stolz. Die alte Frau legt den Spüllappen ins Becken, geht ans Telefon.

"Hallo? Fissel? Fisell Dschungel, Chance, Tomorrow, neuf O´clock, okay thank you, bye bye. Oui, c´était la famille du Pakistan ... "

"Das war die Familie aus Pakistan. Ich glaube, es ist die Frau, sie will mit ihrem Mann sprechen, mit Fissel. Ich habe gesagt, er ist im Dschungel, um sein Glück zu versuchen, in einem Laster nach England zu gelangen. Und falls er kein Glück hat, kann sie ihn morgen früh wieder anrufen. Entweder er hat Glück oder nicht, das weiß man nie ... "

Mireille zieht einen Anorak an, nimmt ihre Tasche, steckt das Portemonnaie ein. Sie will einkaufen: Brot, Streichkäse, Eier, Quark. Damit die Jungs beim Aufwachen etwas zu Beißen haben.

"Ich wünsche sehr, dass Calais ihre letzte Station sein wird und dass man sie dann in England gut aufnimmt. Aber ehrlich gesagt: Ich befürchte, dass sie dort drüben auch nicht glücklich werden. Weil es zu viele sind. England hat sich doch jetzt mit Sarkozy zusammengetan. Da drüben ist es viel härter geworden. Ich habe wenig Hoffnung, aber das, das sage ich ihnen natürlich nicht."

Vorsichtig steigt sie über die Decken mit den schlafenden Männern und geht in die Stadt.

Asyl Flüchtlinge Calais FrankreichZurück zu dem besetzten Haus der Eritreer. Davor erstreckt sich ein unbebauter Platz mit Schlaglöchern und Schotter. Im Jargon von Helfern und Flüchtlingen heißt der Ort "Kantine", weil eine Hilfsorganisation hier täglich eine Brotzeit austeilt. Es ist 14 Uhr. Von allen Seiten strömen Männer heran, sie tragen dicke Anoraks, viele haben Mützen auf. Ein Ball taucht auf. Sogleich laufen ein paar Jugendliche zusammen und kicken.

Ein Junge spielt nicht mit. Er ist groß und dünn, hat hohe Backenknochen, schräge Augen, ein wenig Akne. Der junge Afghane ist aufgeregt. Aizatullah ist 15 Jahre alt, und ohne Familie unterwegs. Vor zwei Monaten und 19 Tagen ist er in Calais gestrandet. Letzte Nacht ist er beim Versuch, nach England zu gelangen, wieder gescheitert.
"Wir wollten in einen Laster steigen, aber die Polizei hat mich geschnappt. Sie haben mich heftig geschlagen und getreten. Dann haben sie mich zu einem Ort gebracht, weit weg, da ist kein Mensch und kein Licht. Es ist Nacht und ich bekomme Angst, weil ich ganz allein bin. Wir sind Flüchtlinge, aber wir sind keine Tiere, die man schlagen kann. Wir sind Menschen! Sie können mich vielleicht zehn Tage ins Gefängnis stecken, aber schlagen dürfen sie mich nicht!"

Aizatullah will die Wunde zeigen. Er krempelt das Hosenbein hoch, darunter kommt eine zweite und eine dritte Jeans zum Vorschein. Sie sind zu eng. Deshalb deutet er jetzt auf den bekleideten rechten Oberschenkel: Da sitzt der Schmerz.

Ein Kleinlaster fährt vor. Die Flüchtlinge stehen schon in Schlange. Die Hilfsorganisation verteilt Brot, Bananen, Joghurts und Suppe in Bechern. Wie ein ausgehungertes Rudel stürzen sich die Menschen auf die Plastiktüten mit dem Essen. Ein Flüchtling betrachtet die drängenden und schubsenden Menschen. Der Afghane lächelt freundlich, aber was er sagt, ist bitter:

"So sieht das Leben der Flüchtlinge in Europa aus. Haben Sie gesehen, wie wir im Dschungel leben? Wenn das weltweit im Fernsehen gezeigt wird, ist es schlecht für die französische Regierung. Aber das ist ihr völlig egal. In Frankreich gibt es keine Menschenrechte. Und auch nicht im restlichen Europa: nicht in Deutschland, nicht in England ... Menschenrechte, das ist hier nur ein Jux."

Dann reiht auch er sich in die Schlange ein.
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