Die universelle Geltung von Menschenrechten

Von Sibylle Tönnies |
In China werden die Menschenrechte nicht ausreichend geachtet. Soll sich dieses Land trotzdem an der Buchmesse beteiligen dürfen? Einerseits – andererseits. Einerseits tut der Protest der Menschenrechtsidee gut; andererseits aber tut ihr die chinesische Beteiligung gut, weil die MenschenrechtsiIdee des Austauschs bedarf, um in die ganze Welt hineindiffundieren zu können. Beides zusammen ist gut: der Protest ebenso wie die dennoch stattfindende Begegnung.
Öfter als man denkt sind zwei gegenteilige Standpunkte, die sich logisch ausschließen, zusammengenommen genau das Richtige. Erinnern wir uns, welche Dispute es über die Anerkennung der DDR gab: Die Einen wollten sie verweigern, damit der Bolschewismus nicht vordringt, die Anderen wollten sie gewähren, damit der Ost-West-Dialog möglich ist. Beide Positionen zusammen, so zeigt sich nachträglich, haben zu dem richtigen Ergebnis geführt: Gut, dass man sich dem Bolschewismus verschlossen, gut, dass man sich dem Bolschewismus geöffnet hat.

Kultureller Austausch mit China heißt: verstehen lernen, warum die Chinesen zu den Menschenrechten Abstand halten. Sie tun es ja nicht, um sich die Möglichkeit offenzuhalten, sie weiterhin zu verletzen. Man kann die Menschenrechtsidee praktisch verletzen, obwohl man sie theoretisch hochhält. Dafür hat ja der Westen schon genug Beispiele geboten. Wenn die Chinesen zu den Menschenrechten Abstand halten, so hat das tiefere, philosophische Gründe. Sie sind ihnen fremd: nicht infolge mangelnder Ethik, sondern infolge abweichender Ethik. Die Chinesen verfügen über eine jahrtausendealte Lehre darüber, wie eine Gesellschaft gedeihlich und harmonisch zusammenleben kann, und sie finden unsere westliche Auffassung wenig attraktiv. Man kann das nachvollziehen:

Ist die westliche Auffassung, dass die Menschen mit einem unsichtbaren Cordon von Rechten umgürtet geboren werden, nicht eine ziemlich abstoßende Konstruktion? Braucht man diese künstliche Zuschreibung nicht nur in einer eigensüchtigen, streitbaren Gesellschaft, wo sich jeder gegen jeden im Kampf befindet? Befördert man mit einem solchen Konzept nicht geradezu diese zerrissene, antagonistische Struktur? Sollte man nicht lieber eine solidarische Gesellschaft zugrunde legen, in der nicht jeder gegen jeden seine Rechte durchsetzen muss?

Für Konfuzius – diesen chinesischen Philosophen aus dem 6. Jahrhundert vor Christi Geburt – war "das höchste Gute" kein System von Abgrenzungen, sondern von heiligen Bindungen: der Menschlichkeit, das heißt dem richtigen Verhalten in den fünf Pflichtverhältnissen – der Eltern und Kinder, der Fürsten und Untertanen, der Geschwister, der Gatten und der Freunde; ferner der Rechtlichkeit, der Schicklichkeit im Verkehr mit Menschen, der Weisheit und der Treue. Viele tausend Jahre haben die Chinesen unter Beachtung dieser Prinzipien friedlich zusammengelebt.

Die chinesische Ablehnung des Menschenrechtsdenkens ist den Deutschen im Übrigen nicht so fremd, wie es vielleicht scheint. Auch in unserer Kultur gab es schon einen Protest gegen die unharmonische, den Verhältnissen von außen aufgedrückte Konzeption. Kurz nach 1800, in der Romantik, wurden gegen die Maximen von Freiheit und Gleichheit ganz ähnliche Argumente vorgetragen. Als die Gleichheit in Frankreich mit der Guillotine durchgesetzt wurde, wandten sich die Dichter und die Denker in Deutschland von der Menschenrechtsidee ab.

Ich möchte für diese Auffassung allerdings nicht letzten Endes werben. Sie wird zunehmend ideologisch: Wenn sich die traditionelle Gemeinschaft aufgelöst hat und durch die moderne Industriegesellschaft abgelöst wurde, in der Ausbeutung das herrschende Motiv ist, müssen die Rechte der Menschen gegeneinander auf den Plan treten. Auch in China. Aber wir können uns von der chinesischen Auffassung doch befruchten lassen. Auch wir haben schließlich nicht nur die Freiheit und die Gleichheit auf dem Panier. Sondern auch die Brüderlichkeit.


Sibylle Tönnies, Juristin, Soziologin, Publizistin, 1944 in Potsdam geboren, studierte Jura und Soziologie. Sie arbeitete zunächst als Rechtsanwältin und war Professorin im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bremen. Heute unterrichtet sie an der Universität Potsdam. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen die Bücher "Der westliche Universalismus", "Linker Salon-Atavismus" und "Pazifismus passé?"