Die unbezwingbare Macht des Erzählens

Rezensiert von Martin Sander · 08.03.2006
Der in Rumänien geborene Schweizer Autor Catalin Dorian Florescu erzählt in seinem neuen Roman "Der blinde Masseur" die Geschichte eines blinden Büchernarren in einem rumänischen Kurort, der sich dort aus den Büchern der Weltliteratur vorlesen lässt. Florescu gelingt mit diesem Buch ein liebevolles und sarkastisches Porträt des neuen alten Rumänien.
Literatur über Literatur zu schreiben, ohne das eigentliche Leben aus dem Blick zu verlieren, grenzt nicht selten an ein Kunststück. Dem 1967 in Rumänien geborenen Schweizer Autor Catalin Dorian Florescu ist dieses Kunststück gelungen. Im Mittelpunkt seines neuen, jetzt im Pendo Verlag erschienenen Romans steht ein Büchernarr der besonderen Art.

Ion Palatinus, der in jugendlichen Jahren sein Augenlicht verlor, hat im Laufe seines Lebens dreißigtausend Bücher gesammelt. Palatinus arbeitet in einem heruntergekommen rumänischen Kurort namens Moneasa als Masseur und gebietet über eine Schar von Vorlesern.

Es sind seine Patienten, Kollegen und Nachbarn, die er alles, was seiner Meinung nach in Weltliteratur und Philosophie von Bedeutung ist, auf Kassetten sprechen lässt. Elena, die Bäuerin, liest Dostojewski und lässt sich dafür von ihrem auf Bücher eifersüchtigen Ehemann prügeln. Ein Fabrikdirektor muss gegen seinen Willen immer wieder Schopenhauer oder Marx vorlesen, um in den Genuss von Massagen zu kommen. Einem lungenkranken Bergarbeiter wird Zolas "Germinal" verordnet.

Der blinde Masseur zieht mit seinem Bücherwissen im Hintergrund wie der Anführer einer politischen Sekte gegen das neue kapitalistische Rumänien zu Felde.

Den Einblick in das skurrile Leben des Ion Palatinus vermittelt der Ich-Erzähler Teodor, der nach einer Autopanne in Moneasa landet und dem dieser abgelegene Ort zum schicksalhaften Ausweg aus einer Krise seiner Schweizer Existenz zu werden verspricht. Teodor ist zwei Jahrzehnte zuvor mit seinen Eltern aus Ceausescus Rumänien in die Schweiz geflüchtet. Als Jugendlicher war er durchs Land gereist und hatte die Geschichten abergläubischer rumänischer Bauern protokolliert. Nun kehrt er als Vertreter für modernste Schweizer Sicherheitstechnik in seine alte Heimat zurück.

Auf der Suche nach sich selbst, seiner Jugendliebe und den alten Geschichtenerzählern gerät er in ein Land voll schroffer Gegensätze, in dem es manchen besser geht, aber kaum jemand glücklicher wirkt als damals. Die postkommunistische Mafia bestimmt das Geschehen. Sie herrscht mit Gewalt über die meisten Zweige der neuen Marktwirtschaft und befehligt dazu noch ein schier unendliches Heer von Prostituierten.

Teodor, der aus der kalten Welt der westlichen Zivilisation aufgebrochen ist, um das wahre, ursprüngliche Leben wieder zu finden, begibt sich schließlich ganz in die Hände des blinden Masseurs. Dieser Guru preist sein Bücherleben in der provinziellen Einöde als Gegenentwurf zum zwielichtigen Fortschritt. Am Ende aber bricht er mit seinen Jüngern in die Schweiz auf und lässt Teodor in Moneasa zurück.

Bereits in seinen beiden ersten, autobiografischen Romanen "Wunderzeit" und "Der kurze Weg nach Hause" hat sich Catalin Dorian Florescu als begnadeter Erzähler erwiesen. Mit dem "Blinden Masseur" ist ihm ein ebenso liebevolles wie sarkastisches Porträt des neuen alten Rumänien gelungen – ein in üppigen Farben gemalter Roman über Lust, Sehnsucht und Verzweiflung von Menschen, denen der Alltag brüchig scheint und die Macht des Erzählens unbezwingbar.

Catalin Dorian Florescu: Der blinde Masseur
Pendo Verlag, Starnberg 2006, 280 Seiten