Die unbehelligten NS-Verbrechen

Von Karl F. Gründler |
Anfang der sechziger Jahre lebten noch zahlreiche NS-Verbrecher unbehelligt in der Bundesrepublik. Im Mai ´65 endete zudem die Verjährungsfrist von 20 Jahren. Aufgrund internationalen Drucks beschließt der Bundestag schließlich die Verlängerung der Verjährungsfrist. Justizminister Bucher trat daraufhin zurück.
In den fünfziger Jahren, in der jungen Bundesrepublik, kamen die Ermittlung und Ahndung von NS-Verbrechen nur mühsam voran. Zahlreiche Akten lagerten unzugänglich im Ausland. Ehemalige Nationalsozialisten sabotierten in Ministerien und im Justizapparat die Aufklärung. Freiheitsberaubung und Totschlag durch NS-Verbrecher verjährten bereits 1955 bzw. 1960. Im Mai 1965 drohten auch Morde von NS-Tätern wegen der Verjährungsfrist von 20 Jahren nicht mehr verfolgt zu werden.

Justizminister Bucher, FDP, hält die von der oppositionellen SPD geforderte längere Verjährungsfrist für grundgesetzwidrig, die CDU-Fraktion ist gespalten. Im November 1964 beschließt das Kabinett gegen das Votum von Kanzler Ludwig Erhard die Beibehaltung der Verjährungsfrist. Daraufhin rufen große jüdische Unternehmen in den USA zum Boykott deutscher Waren auf. Die Parlamente Frankreichs, Großbritanniens, Norwegens sowie der Europarat formulieren Protestnoten.

Im Februar 1965 überlässt die Bundesregierung angesichts des internationalen Drucks dem Bundestag die Entscheidung. Nun versuchen Teile der CDU-Fraktion mit der oppositionellen SPD eine Mehrheit gegen den Regierungspartner FDP zu bilden. In der ersten Lesung am 10. März begründet der CDU-Abgeordnete Ernst Benda seinen Vorschlag, die Verjährungsfrist um zehn Jahre zu verlängern.

" Ich bestehe darauf zu sagen, dass dieses deutsche Volk doch kein Volk von Mördern ist und dass diesem Volk doch erlaubt sein muss, ja dass es um seiner selbst willen dessen bedarf, dass es mit diesen Mördern nicht identifiziert wird, sondern dass es von diesen Mördern befreit wird, dass es deutlicher gesagt sich selber von Ihnen befreien kann."

Der Freidemokrat Thomas Dehler beharrt dagegen auf der bestehenden Rechtslage.

" Was können wir tun, um im Einklang mit dem Willen der Welt zu sein? Sollen wir mit ihr hassen, verfluchen, Schuld und Sühne verewigen? Können wir dadurch Schaden von unserem Volke wenden? Nein, wir können ihnen nur schlicht und fest unseren Willen zum Recht dartun. Ein mehr gibt es nicht."

Adolf Arndt von der SPD warnt davor, den Begriff Recht demagogisch zu missbrauchen

"Was ist denn die Wirklichkeit? Die Leute hatten nach damals geltendem Recht ihren Kopf verwirkt. Das ist die Wahrheit, nicht wahr. (Beifall) Und Kopf ist ihnen geschenkt worden vom Bonner Grundgesetz. Und das Grundgesetz kann doch weiß Gott noch sagen, ohne dass wir gegen rechtsstaatliche oder, oder menschenrechtliche Grundsätze verstoßen. Wir brauchen etwas länger Zeit dazu, um das hier noch strafrechtlich zu verfolgen."

Anschließend lanciert der CDU-Abgeordnete Max Güde im Rechtssauschuss den § 3 in den Gesetzentwurf, der die Mehrzahl der Täter wegen "beschränkter Entschlussfreiheit in untergeordneten Stellungen" vor Verfolgung schützt. Die SPD stimmt der Vorlage zunächst ahnungslos zu, schlägt aber am Tage vor der abschließenden Lesung Alarm. Erst am Morgen des 25. März finden die großen Parteien einen Kompromiss. Die CDU streicht den umstrittenen § 3, während die SPD sich mit einer lediglich fünfjährigen Fristverlängerung bescheidet.

In der nur noch kurzen Plenarsitzung beschwören Vertreter von CDU und SPD die gemeinsame Linie, während die FDP eine Änderung der Verjährungsfrist weiter ablehnt. Schließlich gibt Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier das Ergebnis bekannt:

"Mit JA haben gestimmt 344 Mitglieder des Hauses und 20 Berliner Abgeordnete. Mit NEIN haben gestimmt 96 Mitglieder des Hauses. Enthalten haben sich vier."

Justizminister Bucher tritt wie angekündigt zurück. Umfangreiche Akten vor allem aus Osteuropa können noch ausgewertet und zahlreiche Anklagen erhoben werden. Die Verjährungsfrist für Mord und Völkermord wird 1969 und 1979 vom Bundestag um weitere zehn Jahre verlängert bzw. ganz aufgehoben. Allerdings behinderte bereits seit 1968 die so genannte Ordnungswidrigkeitennovelle durch ihren Beihilfe-Passus die Verfolgung von Nazi-Tätern erheblich. Für Nichtjuristen kaum nachvollziehbar, wurden dadurch Dutzende Verdächtige, vor allem Schreibtischtäter, freigelassen.

Literatur:
Peter Reichel: "Vergangenheitsbewältigung in Deutschland"
München, 2001

Marc von Miquel: "Ahnden oder amnestieren?"
Göttingen, 2004

Anica Sambale: "Die Verjährungsdiskussion im Deutschen Bundestag"
Hamburg, 2002