Die übliche Karriere ersparen

Von Astrid Matthiae |
Noch vor rund zehn Jahren war die Schulkarriere für Sinti-Kinder in Deutschland programmiert, auch an der Matthias-Claudius-Schule in Kiel. ABC-Schützen aus Sinti-Familien überstanden dort meist noch nicht einmal die erste Klasse, sondern landeten fast zwangsläufig, das heißt zu 85 Prozent auf der Sonderschule. Bis zwei Sinti-Mütter sich einmischten.
Nach und nach haben sie die Verhältnisse umgedreht und in Zusammenarbeit mit den Lehrern die Sonderschulquote bei den Sinti-Kindern der Matthias-Claudius-Schule auf Null gedrückt. Auch andere Schulen in Kiel profitieren mittlerweile von dem Erfolgsmodell. Aber darüber hinaus sucht es noch Nachahmer.

Wanda Kreutz: „Früher hat uns ja keiner vermisst. Da hieß es nur immer Zickzack Zigeunerpack. Da war jeder froh, wenn sie keinen Sinti gesehen haben. Wenn ich früher sage, mein ich so 20, 25, 30 Jahren. Zu meiner Zeit wars noch so. Nach mir hat keiner gefragt, wenn ich nicht kam. Ich bin zum Beispiel nur bis zum elften Lebensjahr zur Schule gegangen. Dann hab ich keine Schule mehr besucht.“

Regina Kreuzer: „Ich war auf ner Grundschule, und meine Lehrer haben zu mir gesagt, ich kann nicht richtig rechnen, ich kann nicht richtig lesen und komm da nicht mit, ich hatte keine Freunde an der Schule, war immer alleine, und ja, dann bin ich zur Sonderschule gekommen. Dann hab ich gedacht, also meine Jungs, die sind eingeschult worden, das sind Zwillinge, auch auf einer Grundschule und dann nach drei Monaten hat man mir gesagt, ja, die beiden kommen nicht mit, die schaffen das nicht und müssen auf ne Sonderschule gehen. Und als meine Töchter denn so weit waren, zur Schule zu gehen, da hab ich mir gedacht, diesen Weg werden die zwei nicht gehen.“

Stimmen von Sinti-Frauen zu ihrem Schulbesuch im schleswig-holsteinischen Kiel. Was sie erzählen, erlebten bis vor kurzem wohl noch die meisten deutschen Sinti und Roma.
Wanda Kreutz musste die Schule bereits als Elfjährige verlassen, weil ihre Mutter gestorben war. Als ältestes Mädchen hat sie den Haushalt übernommen und ihre sieben Geschwister betreut.

Die Zwillingsmutter Regina Kreuzer mochte nicht mehr einsehen, dass Sinti bestenfalls auf die Sonderschule gehören. Ihre eigenen Erfahrungen und die ihrer beiden ersten Kinder wollte sie ihren Töchtern ersparen. Diesen Entschluss fasste sie vor elf Jahren.

Kreuzer: „Und dann bin ich zu Frau Hamann gegangen, das war die damalige Rektorin an der Matthias-Claudius-Grundschule, und hab ihr erzählt von unseren Problemen, sag ich mal. Was unsere Kinder haben, oder was ich selber in meiner Schulzeit hatte.“

Oder, um es anders zu sagen, was den Sinti-Kindern gefehlt hat: nämlich Verständnis für Schleswig-Holsteins am wenigsten beachtete Minderheit, Verständnis für ihre Sprache, das Romanes, Verständnis für ihre so ganz andere Kultur, Verständnis für die 600-jährige oft leidvolle Geschichte der schleswig-holsteinischen Sinti und für deren Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.

Kreuzer: „Meine Eltern sind nicht zur Schule gegangen, weil wieder die Eltern, die waren ja im KZ, und die hatten natürlich Angst gehabt um ihre Kinder, weil damals die Kinder aus den Schulen rausgeholt worden sind, und dann im Lager reingebracht worden sind.“

Es gibt noch Zeitzeugen unter den älteren Sinti Schleswig-Holsteins, die berichten können, wie die Nazis die Sinti-Kinder aus dem Unterricht heraus in die Konzentrationslager verschleppt haben. Heute leben etwa 80.000 deutsche Sinti in der Bundesrepublik, um die 6000 in Schleswig-Holstein. Die jüngeren Generationen sind größtenteils Nachfahren von KZ-Überlebenden. Deren Leiden sind allerdings viel weniger anerkannt worden als beispielsweise das Schicksal der Juden. Und diskriminiert werden die Sinti bis heute. So werden sie im Land Schleswig-Holstein schlechter gefördert als die beiden anderen Minderheiten dort, die Friesen und Dänen. Denn in der Verfassung des Lands zwischen den Meeren, mit seinen vielen blonden und blauäugigen Bürgern, haben die Sinti bisher einen schlechteren Status als die beiden anderen Volksgruppen. Grund zur Skepsis gab und gibt es also genug, auch für Sinti-Mütter gegenüber der Schule der 90er Jahre.

Inken Krenz-Tambonan: „Sie brachten morgens ihre Kinder und blieben. Nun nicht gerade in der Klasse, aber vor den Klassen, blieben sie sitzen; auf m Hof, auf m kalten, oder in den Gängen stehen, weil sie doch Angst hatten, es geschähe ihren Kindern was, was sie vielleicht nicht so überblicken könnten.“

Inken Krenz Tambonan, heute stellvertretende Schulleiterin der Matthias-Claudius-Schule, hat die Anfänge des Mediatorinnen-Modells miterlebt. Sie erinnert sich noch an die ersten Schritte, mit denen Regina Kreuzer und eine andre Sinti-Mutter sich in das Schulgelände hinein begaben. Zunächst blieben sie nur auf dem Schulhof und waren in den Pausen Ansprechpartnerinnen für ihre Kinder.

Kreuzer: „Die Sinti-Kinder, die waren froh, dass sie gesehen haben, da sind welche. Da sind welche, die uns kennen, die unsre Sprache sprechen, die wissen, was uns bedrückt, wenn sie vielleicht mal Probleme gehabt haben mit ihren Mitschülern, oder wenn sie was nicht gekonnt haben, dann ist es ja auch so, dass die Kinder keine Lust haben, mehr zur Schule zu gehen, und ihnen halt diese Unterstützung zu geben, das glaub ich war das.
Ich hatte diese Hilfe selber nicht gehabt als Kind, und auch meine Junges hatten solche Hilfe nicht gehabt, und ja, sie trauten sich ja nicht zu sagen, Ja, ich kann das nicht.“

Die beiden Sinti-Mütter gaben ihren und anderen Sinti-Kindern Sicherheit in der Schule der Anderen. Sie übersetzten in die Muttersprache Romanes, wo die Heimatsprache Deutsch noch nicht reichte, und vermittelten bei sprachlichen Missverständnissen und kulturellen Unterschieden. Die Berufsbezeichnung dafür, Mediatorinnen, bekamen sie einige Zeit später zusammen mit einem Anstellungsvertrag vom Kultusministerium.
Fühlten sich die Pädagogen im Unterricht behindert oder beäugt? Inken Krenz-Tambonan lächelt und sagt: Nein.

Krenz-Tambonan: „Eigentlich waren die meistens bei mir. Insofern, ich fühlte mich nicht gestört, ich hab immer gedacht, ach Hilfe, nimmst du Hilfe an, ja gerne, insofern war das nicht das Problem. Und die andern Kollegen, also es hat sich nie jemand beschwert und ich weiß nicht, ob es bei manchen n Problem gab, aber kaum. Ich glaub, das war ganz gut. Und es läuft jetzt auch immer noch gut.“

Kreuzer: „Wir haben uns herangetastet. Die Lehrer wussten ja auch nicht, wie sie mit uns umgehen sollten, wir wussten nicht, wie wir mit den Lehrern umgehen sollten. Ja so haben wir gelernt. Die Lehrer von uns, wir von den Lehrern. Nach und nach wurden wir angenommen von ihnen, und jetzt fühl ich mich wirklich dazugehörig. Wenn ich jetzt zu meiner Arbeitsstelle hinkomm, auch die Nicht-Sinti-Kinder, die freuen sich, auch wenn ich einkaufen geh, und ich die Nicht-Sinti-Kinder seh, dann begrüßen sie mich schon, ‚Hallo, Frau Kreuzer‘ und so, also das ist einfach ein Miteinander geworden.“

Es ist die zweite Stunde. Ein kleiner Junge steckt seinen Kopf in den Raum, den es seit rund zehn Jahren in der Matthias-Claudius-Schule für die Sinti-Kinder gibt. Der kleine Sinto ist nicht etwa ausgebüxt aus dem Unterricht, wie es bei Sinti-Schülern früher häufiger vorkam, sondern er hat noch frei, bis zur dritten Stunde, ist dem wortkargen Erstklässler zu entlocken. Dann erst beginnt sein Unterricht. Er sei allerdings schon um ¼ vor 8, zu Schulbeginn gekommen, sei in die Turnhalle gegangen, und dort habe er älteren Schülern bei der Sportstunde zugeguckt. Andere Kinder würden wahrscheinlich so lange zu Hause zu bleiben, bis der Unterricht für sie beginnt. Aber das weist der Kleine kurz und entschieden zurück.

Sinto: „Ich nicht.“
Reporterin: „Warum nicht?“
Sinto: „Weil Schule Spaß macht.“

Auch der kleine Sinto Aquelino geht gerne in die Schule, und weiß genau warum.

Sinto: „Ja, hier lern ich lesen und wenn ich mal groß bin, kann ich was vorlesen für meine Kinder.“

In einigen Schulstunden hat Aquelino eine Mediatorin neben sich, Monika Weiss, mit ihren 23 Jahren die jüngste im Vierer-Team. Sie hilft dem Jungen beim Verständnis der Textaufgaben, und wenn gerade eine Spielpause ansteht, mahnt sie ihn, „nett“ zu sein; das heißt, mit seinem Temperament etwas vorsichtig umzugehen.

Aquelino: „Beim Spielen soll ich nett sein.“
Monika Weiss: „Ich hab gesagt, beim Spielen soll er lieb sein.“
Aquelino: „Manchmal geht wieder mein Stress los.“
Weiss: „Manchmal ist er n bisschen zu wild, das muss man mal sagen. Da muss man ihn manchmal bremsen.“

Von einer Sintezza nimmt er diesen Hinweis an, auf Romanes. Seine Muttersprache nicht nur zu Hause, sondern ab und zu auch im Unterricht sprechen zu können, gefällt ihm, bestätigt Aquelino mit einem knappen.

Aquilino: „Gut“

Und dann fügt er noch hinzu:

„dass du ein'n Zigeuner kennst.“

Allzu viele Freunde außerhalb der Sinti-Gemeinschaft scheint der kleine Aquelino noch nicht zu haben.
Seiner jüngeren Schwester Selina hingegen stehen gleich zwei Schulfreundinnen bei, während des Radiointerviews in der Pause. Sie bestätigen auch für ihre Klasse: Nicht nur den Sinti-Kindern helfen die Sinti-Frauen. Ihre Cousine, also die Mediatorin Monika Weiss, möchte Selina allerdings ebenso wenig missen wie ihr Bruder.

Selina: „Denn unterstützt sie mich immer manchmal wenn sie da ist, und wenn sie nicht da ist, denn komm ich mir so alleine vor. Also zum Beispiel wenn wir jetzt lesen, also ich kann nicht gut lesen. Und wenn ich was falsch lese, sagt sie, das ist falsch, und denn sagt sie mir die manchen Buchstaben, die ich noch nicht bisschen kenne.
Manchmal, wenn ich das nicht verstehe, was meine Lehrerin sagt, und wenn das meine Cousine versteht jetzt, denn sagt sie mir, was sie jetzt gesagt hat.“
Reporterin: „In welcher Sprache sagt sie das dann?“
„Äh auf Zigeunisch. Aber manche sagen, dass ich das nicht reden darf, weil das andre nicht kennen.“
„Und was sagst du dann?“
„Denn sag ich, jeder darf seine eigene Sprache sagen.“

Mit diesem Standpunkt liegt die kleine Selina als Angehörige einer europäischen Sprachminderheit ziemlich richtig.
Die „Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen“, in Deutschland seit 1999 in Kraft, schützt unter anderem die Sprache der Sinti und Roma, und zwar auch in Schleswig-Holstein. Offiziell ist dies Bundesland sogar stolz auf seine Sprachenvielfalt, zu der neben der Regionalsprache Plattdeutsch nicht nur Friesisch und Dänisch beitragen, sondern eben auch Romanes.

Im Schulalltag ist es deswegen wichtig, dass diese in Norddeutschland fast vergessene Sprache für die betreffenden Kinder nicht zum Stolperstein wird auf dem Bildungsweg,
zumal es neben der Sprache noch weitere Bildungshindernisse für sie gibt.

Kreutz: „Schule ist wichtig, Familie ist wichtiger. Das heißt, wenn jetzt ein Familienangehöriger, nah verwandt, krank ist, sehr krank, ich spreche nicht von einem Schnupfen, und n Teil der Familie wohnt jetzt hier in Schleswig-Holstein, und der andre wohnt in Süddeutschland, und da kommt ein Anruf, und es ist voll Schulzeit, dann wird nicht danach gefragt, ob Schule ist oder wie auch immer. Dann wird sich ins Auto gesetzt, so gut es möglich ist, und dann wird da hingefahren, weil es wichtiger ist, bei der Familie zu sein, als da jetzt ich sag mal, zwei Buchstaben zu lernen.“

Dieser Zusammenhalt der Familien werde nicht angetastet, betont Wanda Kreutz; aber er sei ein Hauptgrund für die noch immer zu große Zahl von Fehltagen bei vielen Sinti-Kindern, ist aus dem Lehrerkollegium zu hören. Allerdings würden die Schüler heute offiziell abgemeldet. Ein weiteres Problem: Da Sinti-Eltern mehr als andre Angst um ihre Kinder haben, bringen sie sie meist zur Schule und holen sie auch wieder ab. Wenn den Eltern etwas dazu zwischen kommt, bleiben die Kinder zu Hause. So gut es geht, holen sie später nach, was sie versäumt haben. Unter anderem wegen der Familien-Kultur der Sinti ist die tägliche Hausaufgabenhilfe wichtiger Teil des Mediatorinnen-Modells. Im eigens für sie eingerichteten Raum hängen die Sinti-Kinder meist noch eine Stunde dran an den Schultag, manchmal auch mehr.

Kreutz: „Wenn die Kinder jetzt die Schule schwänzen oder gar nicht mehr zu Schule kommen, was soll später aus ihrem Leben werden? Früher durfte man rumreisen. Es hat einfach n freieres Leben stattgefunden. Und man hat gelebt. Es ging einem gut. Man war nicht auf diese Stütze angewiesen, weil jeder seinen Lebensunterhalt selber verdient hat. Und heute ist es anders.
Heut müssen die Kinder zur Schule. Ich steh ja auch dahinter. Heute muss man seinen Lebensunterhalt verdienen, weil man sonst auf der Straße oder unter der Brücke lebt.“

Typische Sinti-Berufe wie das Scheren-Schleifen oder mit Teppichen und Kurzwaren hausieren zu gehen, diese Berufe gibt es nicht mehr.
Also setzt Wanda Kreutz zusammen mit ihren Kolleginnen, mit Eltern und Lehrern alles daran, die Schulkarrieren der Sinti-Kinder zu verbessern. Der Erfolg gibt ihnen Recht, bestätigt die langjährige Lehrerin Inken Krenz-Tambonan.

Krenz-Tambonan: „Also früher gab es – glaube ich – ganz viele Fälle, weil die Kinder eben so wenig zur Schule kamen, dass sie eher zur Förderschule überwiesen wurden, und keinen Schulabschluss hatten, also auch keine Lehre machen konnten und keine Ausbildung. Meine Mädchen, die mit mir angefangen haben, also in der Vorklasse die vier Grundschuljahre, haben alle den Hauptschulabschluss und haben jetzt zum Teil angefangen, eine Lehre zu machen oder sind im Berufsbildungswerk. Also die machen ihren Weg, ganz normalen Weg, wie andre deutsche Jugendliche auch.“

Mittlerweile profitieren alle vier Kieler Schulen mit Sinti-Kindern von den Mediatorinnen. Nachahmer in Schleswig-Holstein, oder darüber hinaus, findet ihr Modell bisher aber nicht. Die Gründe dafür hängen unter anderem mit der Landesverfassung zusammen. Sie enthält in Schleswig-Holstein bisher keinen Passus zu „Schutz und Förderung“ der Minderheit der Sinti – im Gegensatz zu den beiden anderen Sprachminderheiten. Das bemängelt auch Literaturnobelpreisträger und Preisstifter Günter Grass. Mit seiner „Stiftung zugunsten des Romavolkes“ ist er einer der wenigen Fürsprecher der Sinti und Roma.

Günter Grass: „Wir haben ja hier schon mal einen Versuch unternommen, als es hier noch ne rot-grüne Regierung in Schleswig-Holstein gab, die Sinti in den Minderheitenschutz hineinzunehmen, nicht. Und das ist von der CDU und der FDP abgeblockt worden. Und soviel ich weiß, das einzige Bundesland, ist Rheinland-Pfalz unter dem Ministerpräsidenten Beck, wo es einen solchen Minderheitenschutz gibt. Und das ist auch mit ein Grund, warum Herr Beck von uns eingeladen wurde, bei der Preisverleihung, die bevorsteht, dabei zu sein.“

Ein Grußwort wird Ministerpräsident Kurt Beck an die Preisträgerinnen richten.
Da für die Laudatio auf die Sinti-Mediatorinnen Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carsten gewonnen werden konnte, werden die beiden Ministerpräsidenten aus Anlass der Preisverleihung zusammenkommen. Und nach den schönen Reden werden sie Gelegenheit haben, gemeinsam zu überlegen, wie sie neue Signale setzen können, ganz im Sinne des Preis-Stifters Günter Grass, zu Gunsten des Romavolkes.