Die Überwindung der Sprachlosigkeit

11.04.2009
Der Roman "Nachtgeschwister" ist ein Befreiungstext. Eine Frau versucht nach dem Tod ihres Partners, das eigene Sprechen wiederzufinden. Ihre gemeinsame Geschichte beginnt vor dem Fall der Mauer. Die in Westdeutschland lebende Ich-Erzählerin ist Schriftstellerin. Zufällig stößt sie auf den Gedichtband eines Mannes aus dem Osten, den sie Jakob Stumm nennt.
"Ich warte auf die Worte, die mir durch ihn abhanden gekommen sind.", bekennt die Ich-Erzählerin dieses Romans ganz am Ende des Textes. Es ist das Resümee einer Frau, die die Erfahrung einer tumultuösen Beziehung schildert und mit diesem Roman genau das im Auge hat: die Überwindung der Sprachlosigkeit, das Wiederfinden eines Ausdrucksvermögens, das durch jene Beziehung schwer beschädigt worden ist.

"Nachtgeschwister", das ist in diesem Sinn ein Befreiungstext einer okkupierten Person, eines geknebelten Wesens, das sich erst durch den Tod des ehemaligen Partners in die Lage versetzt fühlt, das eigene Sprechen wiederzufinden.

Das Verhängnis beginnt mit Gedichten. Dreieinhalb Jahre vor dem Fall der Mauer stößt die in Nürnberg lebende Ich-Erzählerin, selbst Schriftstellerin, zufällig auf den Gedichtband eines Mannes aus dem Osten, den sie Jakob Stumm nennt. Sie ist "wie vom Blitz getroffen" von der Kraft dieser Gedichte, berührt in ihrem tiefsten Inneren, sofort beseelt von der Idee, diese offenbar verwandte Seele kennenzulernen.

Als sich das Treffen schließlich ereignet, weil der stark sächselnde Ost-Autor aus Leipzig ein West-Stipendium erhalten hat und sein noch eingemauertes Land verlassen darf, beginnt eine leidenschaftliche Beziehung, eine Obsession recht eigentlich, die illustriert, wie blitzartig die Passage zwischen lyrischer Entflammung und heftiger Körperlichkeit genommen werden kann.

Das Verhängnis hat zwei Spielarten, sich in Szene zu setzen. Die eine ist der Alkoholismus des Jakob Stumm, der zuweilen in der Lage ist, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken und auf dem Weg dorthin zu Gewalttätigkeiten neigt. Der Durst dieses Dichters ist aber nur bedingt das Problem. Schwerer wiegen – in dieser Beziehung – die Deformationen seiner Persönlichkeit, die die Ich-Erzählerin nach und nach ergründet.

Das Provisorium seines West-Aufenthalts, das sich mit dem Fall der Mauer zu einem dauerhaften Lebensumfeld formt, wird zur Eruptionsfläche seiner inneren Konflikte. Ohne jegliche soziale Bindung – außer der zur Ich-Erzählerin –, ergreift ein Gefühl der absoluten Verlorenheit im kalten, waren und geldbesessenen Westen Besitz von ihm.

Seine Biografie als vaterlos aufgewachsener Mann, der unter der Herrschaft eines gewalttätigen Großvaters selbst gelitten hat, aber ebenso Zeuge dessen wurde, wie seine Mutter diese Gewalt ertragen musste, erscheint als Erklärungsmodell für eben jene Persönlichkeitsstörung, die diese Beziehung über stürmisch wechselnde Brüche und Versöhnungen hinweg letztlich unmöglich macht.

Parallel dazu spürt die Ich-Erzählerin ihren eigenen Konditionierungen in Sozialisierungs-, also Beziehungsfragen, nach. Kind einer ukrainischen Zwangsarbeiterin in West-Deutschland, die sich das Leben nahm, als die Ich-Erzählerin noch sehr jung war, ist sie ebenfalls eine Person, deren Identität vor allem von Irrungen und Wirrungen statt von emotionaler Stabilität geprägt wurde.

Natascha Wodins Roman ist in erster Linie eine sensibel ergründete Beziehungsstudie, die aus dem Verarbeiten einer hochkomplizierten Karambolage von Gefühlswelten resultiert. Eingebettet in den Kontext des 20. Jahrhunderts, wird dieser Roman zu einem Stück der Zeitgeschichte.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Natascha Wodin: Nachtgeschwister. Roman
Verlag Antje Kunstmann, München 2009
238 Seiten, 18,90 Euro