"Die UdSSR und die deutsche Frage 1941 - 1948"

Rezensiert von Bernd Bonwetsch · 11.03.2005
Eine bislang in russischer Sprache publizierte Dokumentation zur sowjetischen Deutschlandpolitik in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren ist nun auch in deutscher Übersetzung erschienen. Die gewichtige Edition bringt es in drei Bänden auf zusammen über 2600 Druckseiten.
Eine 1996-2003 in russischer Sprache publizierte Dokumentation zur sowjetischen Deutschlandpolitik in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren, vom 22. Juni 1941 bis zum 15. Juni 1948, ist nun auch in deutscher Übersetzung erschienen und damit einem weiteren Leserkreis zugänglich gemacht worden. Es ist im doppelten Sinne eine gewichtige Edition: die drei Bände bringen es auf zusammen über 2600 Druckseiten. Sie bieten fast 500 Dokumente, die vor allem für die Nachkriegszeit großenteils bisher noch gar nicht oder verstreut in russischer Sprache veröffentlicht waren.

Die Dokumente ermöglichen Einblicke in die Formulierung sowjetischer Politik, wie wir sie bisher nur selten hatten. Jahrzehntelang mussten wir uns mit sowjetischen Dokumenten begnügen, die wenig aussagefähig waren bzw. deren Verlässlichkeit gering war. Zu erinnern ist nur an die Leugnung der Existenz der geheimen Zusatzprotokolle zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag von 1939 oder die äußerst lückenhaften Dokumentenveröffentlichungen zu den Kriegskonferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam. Sie waren als Quelle unseriös, weil als politisch bedenklich angesehene Passagen – etwa zur sowjetischen Haltung in der Frage der Aufteilung Deutschlands – einfach ausgelassen worden waren.

Auch sonst gab es wenige Informationen, weil die Sowjetunion nach dem Kriege fast hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen wurde. In den letzten Lebensjahren Stalins gab es kaum Kontakte zwischen westlichen und sowjetischen Vertretern, selbst die Provinzpresse durfte von den Botschaften nicht abonniert werden, Heiraten mit Ausländern, auch aus den so genannten "Bruderländern", waren verboten. Alles Politische war hinter Kremlmauern verborgen, und so genannte "Kremlastrologie", später zu unrecht belächelt, war eine unerlässliche, wenn auch selbstverständlich unzulängliche Erklärungsmethode für die öffentlichkeitsscheue Sowjetpolitik. Persönliche Berichte von Abtrünnigen oder Ausgestoßenen wie Wolfgang Leonhard oder Milovan Djilas waren lange Zeit die einzig halbwegs authentischen, aber sehr begrenzten Quellen für unsere Ansichten zur sowjetischen Deutschlandpolitik.

Hier nun bedeutet die Publikation von Originaldokumenten erheblichen Gewinn. Sie ist durch die verbesserte generelle Freigabepraxis in Russland wie auch durch den Einsatz der von Kanzler Kohl und Präsident Jelzin eingerichteten deutsch-russischen Historikerkommission zur gemeinsamen Erforschung der jüngeren Vergangenheit der deutsch-russischen Geschichte und manches Entgegenkommen des Archivs für Außenpolitik der Russischen Föderation möglich geworden.

Allerdings ist das politische Gewicht der Dokumente im Kriegsband größer als in den Nachkriegsbänden, und es werden nun keineswegs alle Fragen beantwortet, die zur sowjetischen Deutschlandpolitik noch offen sind. Was wir vor uns haben, das sind vielmehr Mosaiksteinchen, die sich irgendwann zu einem bislang nur in Umrissen aufscheinenden Gesamtbild zusammensetzen lassen werden. Auch die Herausgeber machen daraus keinen Hehl. Es sind für dieses Defizit vor allem folgende Gründe verantwortlich:

1. Es werden mit Ausnahme zweier Aufzeichnungen von Gesprächen Stalins mit der SED-Führung vom Januar 1947 und März 1948 nur Dokumente aus dem Archiv des Außenministeriums veröffentlicht.

2. Entscheidungsvorgänge der höheren Ebenen insbesondere des Politbüros bzw. der "Instanz", d. h. Stalins, sind, auch wenn das Außenministerium Vorlagen geliefert hatte und beteiligt war, nicht dokumentiert.


3. Es werden zwar viele Memoranden und Berichte für die Vorgesetzten, aber insbesondere für die Nachkriegszeit kaum Ausführungsanweisungen von oben nach unten dokumentiert.

4. Den Bearbeitern standen weder alle Deutschland betreffenden Dokumente noch auch nur die vollständigen Bestandsverzeichnisse des Archivs des Außenministeriums zur Verfügung.

Das alles hat Folgen für die Reichweite der Aussagekraft der Dokumente. Denn das Ministerium bzw. Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, wie es bis März 1946 hieß, war weder in den Deutschland als ganzes noch in den allein die Sowjetische Besatzungszone betreffenden Fragen die einzige oder ausschlaggebende Instanz. Das gilt besonders für die Nachkriegszeit, als aus der sowjetischen Politik gegenüber Deutschland im Wesentlichen sowjetische Politik in der eigenen Besatzungszone Deutschlands wurde. In vielen Fragen war das Außenministerium nicht einmal informiert. Das gilt auch für Fragen, die das Verhältnis zu den Alliierten direkt betrafen wie Demontagen, Reparationen, Entnazifizierung, Zulassung politischer Parteien.

Ebenso bedeutsam wie diese Isolierung des Ministeriums von vielen Entscheidungen ist die Tatsache, dass aus den abgedruckten Dokumenten selbst nicht hervorgeht, ob und warum Vorlagen aus dem Ministerium abgelehnt oder weiterverfolgt wurden. Selbst die Ansicht Molotows zu den Vorlagen wird nur ganz selten sichtbar, und wenn, dann sehr wortkarg durch Randbemerkungen wie "einverstanden".

Dies hat zum einen mit den Praktiken der Stalinzeit zu tun, wie man sie auch aus anderen Behörden und Archiven kennt: Es gehörte einfach zu den Überlebenstechniken, möglichst wenige Spuren zu hinterlassen. Überdies sind viele der dennoch hinterlassenen Spuren, um im Bilde zu bleiben, noch den Blicken verschlossen. Sie sind immer noch als geheim eingestuft, und zumindest auch der deutsche Bearbeiter weiß noch nicht einmal, worum es in den nicht zugänglichen Dokumenten geht. Dazu gehört zum Beispiel der gesamte chiffrierte Telegrammverkehr zwischen den Auslandsvertretungen und dem Ministerium.

Nach all diesen Einschränkungen hinsichtlich der Reichweite der Aussagekraft der Dokumentation ist allerdings ebenso zu betonen, dass wir ihr viele neue Kenntnisse verdanken. So ist es für unser Verständnis des Stalinschen Systems höchst interessant zu erfahren, dass das Außenministerium und sein Apparat in vielen genuin außen- und deutschlandpolitischen Fragen offenbar entbehrlich waren und dass Funktionäre, die von außen wie Machtteilhaber wirkten, tatsächlich eher Ohnmacht als Macht teilten. An der im Außenkommissariat seit 1943 intensiv betriebenen Planung zur Behandlung Deutschlands ist die tatsächliche Politik jedenfalls weitgehend vorbeigegangen; ebenso an vielen Vorschlägen, die nach Kriegsende im Moskauer Ministerium oder in seiner Berliner Dependance, in der Verwaltung des Politischen Beraters Semjonow, ausgearbeitet wurden.

Wichtiger als Einzelheiten sind jedoch Tatsachen, die sich mit allem Vorbehalt hinsichtlich der Reichweite der Aussagen zu einer Art roten Fadens sowjetischer Deutschlandpolitik zusammenfügen lassen und nicht nur Kenntnisse, sondern vielleicht sogar Erkenntnisse fördern. Für die Kriegszeit gilt dies insbesondere hinsichtlich der Frage der Aufteilung Deutschlands in Einzelstaaten. Mit aller Klarheit wird deutlich, dass Stalin schon am 21. November 1941 in einer Erläuterung für den Londoner Botschafter Maiski nicht nur die Abtrennung von Randgebieten und die Wiedererrichtung eines unabhängigen Österreich, sondern auch die Aufteilung des restlichen Deutschland in mehrere Staaten für notwendig erklären ließ. Das würde, wie es hieß, "eine künftige Garantie für Frieden und Ruhe der europäischen Staaten [...] schaffen. An dieser Auffassung hat Stalin bis Ende des Krieges festgehalten.

Aufschlussreich ist dabei allerdings auch das taktische Vorgehen. Aus Misstrauen gegenüber den Alliierten und im Interesse der Außenwirkung, nicht zuletzt auf die Deutschen, sollte den Alliierten die Initiative in dieser und anderen Fragen der Bestrafung Deutschlands überlassen werden.

Die Furcht, in der Aufteilungsfrage von den Alliierten den "schwarzen Peter" zugeschoben zu bekommen, kommt in Anweisungen vom März 1945 an den Botschafter in London zum Ausdruck. Darin hieß es "zur Orientierung": die "Engländer und Amerikaner, die als erste die Frage der Aufgliederung Deutschlands aufwarfen", wollen nun die "Verantwortung für die Aufgliederung auf die UdSSR abwälzen, um unseren Staat [...] anzuschwärzen". Stalins öffentliche Bekenntnisse während des Krieges zur Einheit Deutschlands lagen ganz auf dieser Linie. Sie hat es der Sowjetunion jahrzehntelang ermöglicht, sich als unbeirrter Wahrer der Einheit Deutschlands auszugeben.

Der Kern der "deutschen Frage" – Teilung oder Einheit – betrifft allerdings nicht die Kriegs-, sondern die Nachkriegszeit. Die Herausgeber meinen, aufgrund der Dokumente eine gerade Linie von den Aufteilungsabsichten Stalins während des Krieges über dessen Besatzungszonenstrategie zur bewusst angesteuerten Teilung in zwei Staaten ziehen zu können. Aber diese Auffassung muss man nicht unbedingt teilen. So wird, um nur ein Indiz anzuführen, in keinem der publizierten Nachkriegsdokumente diese Absicht direkt ausgesprochen und, wie während des Krieges hinsichtlich der Aufteilungspläne, betont, dass den Alliierten aus taktischen Gründen der "schwarze Peter" für eine solche Entwicklung zugeschoben werden soll. Dennoch wird man den Dokumenten eine durchgängige Präferenz zur Bewahrung absoluter Handlungsfreiheit in der eigenen Besatzungszone entnehmen, sobald nur die Rede auf die Einrichtung gesamtdeutscher Institutionen und Regelungen kam. Die Mitsprachemöglichkeit in den Westzonen schien dagegen zweitrangig zu sein.

Die sowjetischen Dokumente weisen sogar für den Fall, dass alliierte Regelungen sowjetischen Wünschen entsprochen hätten, wenig Interesse aus. So verwendete Molotow auf der Potsdamer Konferenz keinerlei Energie darauf, einen unter Federführung Maiskis ausgearbeiteten Reparationsplan vorzubringen, geschweige denn durchzusetzen, bezeichnete dagegen das in Potsdam beschlossene "Zonenprinzip" als "Schritt nach vorn" . Bewahrung der Handlungsfreiheit in der eigenen Zone – das war die Maxime in diesen und ähnlichen Fragen, etwa der Festlegung eines Industrieniveaus in Deutschland, der Durchführung der Währungsreform und der Einführung von Zentralverwaltungen. Man lehnte beispielsweise im August 1946 amerikanische Vorschläge zur Währungsreform aus durchaus legitimen Gründen ab, konnte sich aber erstaunlicherweise auch nicht auf einen eigenen Vorschlag verständigen. Entsprechende Entwürfe wurden aus Gründen, die aus den Dokumenten nicht hervorgehen, nicht weiterverfolgt.

Das ist besonders pikant, weil die einseitige Währungsreform in den Westzonen und den Westsektoren Berlins den Anlass für die Aufkündigung der Kontrollratszusammenarbeit am 20. März 1948 und die Blockademaßnahmen in Berlin bildete. Soweit aus den Dokumenten des sowjetischen Außenministeriums ersichtlich, wurde der Beschluss zu den Blockademaßnahmen jedoch intern keineswegs mit dem Vorgehen der Westmächte begründet. Auch die Währungsreform in der eigenen Zone wurde unabhängig von den Maßnahmen der Westmächte vorbereitet. Nach Maßgabe der vorliegenden Dokumente muss man deshalb mit den Bearbeitern schließen, dass der Zweck der Blockade nicht die Verhinderung der separaten Weststaatsbildung und die Erzwingung der Zusammenarbeitsbereitschaft der Westmächte, sondern ihre Vertreibung aus Berlin war.

Das letzte Wort hinsichtlich der sowjetischen Absichten in Berlin und in Deutschland ist ohnehin noch nicht gesprochen. Vielleicht könnte man aber in Anspielung an Wilfried Loths Buch "Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte" feststellen: Die DDR ist vielleicht ein ungeliebtes, aber doch kein ungewolltes Kind Stalins gewesen.

"Jochen P. Laufer und Georgij P. Kynin (Hrsg.):
Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1948
Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation.
Unter Mitarbeit von Viktor Knoll.
Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2004 "