Die Turnschuhe der Toten

Ein ehemaliger Soldat in Tschetschenien hat dieses Buch über den Krieg im Kaukasus in Computer gehackt. Das Papier, auf dem es gedruckt ist, müsste eigentlich rot vor Blut sein. Es ist ein Zeitdokument eines jungen Mannes, für den das Töten Alltag und eine warme Suppe ein Großereignis war.
Kolima ist 18 Jahre alt, als er seinen Musterungsbescheid erhält. Was der renitente junge Mann mit krimineller Vergangenheit nur für eine Formalität hält, erweist sich als Strafeinsatz in Tschetschenien. Zwei Jahre verbringt er als Scharfschütze in einer Spezialeinheit.

Er zieht nachts durch vermintes Gelände, spioniert stundenlang den Feind aus, um dann in wenigen Sekunden so viele "Araber" wie möglich zu erschießen: Auf den ersten Blick wirkt der Roman "Freier Fall" wie ein Action-Film, der mitten hinein in das Grauen des Krieges führt.

Autor Nicolai Lilin war selbst zwei Jahre als Soldat in Tschetschenien. "Freier Fall" beruht also auf wahren Begebenheiten, wie schon sein Erstling, der Bestseller "Sibirische Erziehung", in dem er von den Gewalterfahrungen seiner Kindheit erzählt. Seit acht Jahren lebt Lilin jetzt in Italien, beide Bücher hat er auf Italienisch verfasst – was einerseits eine quasi fiktionalisierte Niederschrift des erlebten Horrors ermöglicht haben mag, andererseits aber auch darauf hindeutet, dass die Zielgruppe Nicolai Lilins vor allem ein westliches Lesepublikum ist.
Plastisch und packend schildert er in einfachen Worten, wie ein tschetschenisches Dorf eingenommen wird oder wie man ein Gebäude von Feinden "säubert", ausufernd ist die Beschreibung militärischer Taktik, die geradezu lustvolle Beschreibung einzelner Waffentypen, die Details des Tötens. Nüchtern dagegen sind die Beschreibungen der letzten Minuten seiner Opfer, die Genugtuung darüber, dass man beim Toten ein paar gute Turnschuhe oder brauchbare Waffen findet.

Entstellte, gefolterte Leichname werden vom Hauptmann Nossov als "Denkmal" bezeichnet. Der Afghanistan-Veteran ist für Kolima ein Heiliger, den er in Wildwest-Romantik als echten Kerl porträtiert, genau wie für die treuen Kameraden: Es sind jugendliche Mörder, die kleine Tiere als Glücksbringer mit sich herumtragen und eine warme Suppe als Großereignis feiern.

Drastisch und fast abgeklärt taucht man ein in den tschetschenischen Kriegsalltag und ist seinen Protagonisten nahe ¬– aufgrund einer Genauigkeit, die das Buch in erster Linie zu einem wichtigen Zeitdokument macht. "Der Krieg in Tschetschenien war die Hölle", schreibt Nicolaj Lilin, "und mein persönlicher Teufel muss damals im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen sein: Es war sein Ort, war seine Zeit."

Die Absurdität dieses Kriegs reflektiert Lilin darüber hinaus nur ansatzweise: wenn er an einigen wenigen Stellen in der Schilderung militärischer Aktion innehält und die verlogenen Machtinteressen Russlands thematisiert oder wenn er beschreibt, wie die einfachen Soldaten am Boden einem Luftangriff anderer Einheiten geopfert werden. Die jungen Männer sind Schlachtvieh, Spielfiguren der Kommandeure. Doch Lilin klagt nicht an, distanziert sich nicht über die Sprache. Er selbst hat das Selbstmord-Kommando in Tschetschenien überlebt und findet in "Freier Fall" seinen inneren Frieden nach der Entlassung in der Natur Sibiriens. Dieses Happy End hat etwas von einem Hollywood-Film und hinterlässt angesichts zahlloser Toter ein deutliches Unbehagen beim Leser.

Rezensiert von Olga Hochweis

Nicolai Lílin: Freier Fall
Suhrkamp, Berlin, 2011
400 Seiten, 14,95 Euro