Die Trägheit des Herzens

Von Tilman Krause · 10.01.2007
Der Publizist Tilman Krause hat sich den Film "Verfolgt" angesehen. Maren Kroymann spielt darin eine 50-jährige Bewährungshelferin, die mit einem jugendlichen Klienten ein sadomasochistisches Verhältnis eingeht. Er nimmt die Reaktion der Medien unter die Lupe, die den Film, so Krause, als "rein ästhetisch" würdigen.
Da kommt also ein Film in die Kinos, dessen Sujet zumindest ungewöhnlich ist: 50-jährige, vom Leben gezeichnete und dabei nicht eben fröhlicher gewordene Bewährungshelferin lässt sich mit 16-Jährigem, der ihr deutliche entsprechende Avancen macht, auf eine sadomasochistische Liebesbeziehung ein. Landauf, landab wird der Film rein ästhetisch gewürdigt.

Die großartige schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin Maren Kroymann wird gewürdigt. Der dezente, in Schwarzweiß-Farben gedrehte Duktus der Regisseurin Angelina Maccarone wird gewürdigt. Die ganz und gar nicht voyeuristische Darstellung der Beziehung wird gewürdigt. Aber über die Tatsache, dass hier ein Paar sein Glück in der Gewalt findet, mit Schlägen, körperlicher Qual und seelischer Demütigung – darüber kein Wort.

Darf man nicht wenigstens einmal kurz stocken, innehalten, fragen, was da vorgeht, weil man sich damit als spießig oder prüde blamieren würde? Will man es nicht, weil man genug hat von politisch-moralischer Korrektheit und auf dem Standpunkt steht, jeder solle nach seiner Fasson selig werden? Oder kann man es vielleicht schlicht und einfach nicht mehr, weil man so übersättigt ist mit sexuellen Abweichungsgeschichten, dass es auf eine mehr oder weniger nun auch nicht ankommt?

Wohlgemerkt, hier soll nicht der Film diskutiert werden. Seit Ewigkeiten lebt die Kunst von den Grenzfällen, den Verwirrungen der Gefühle, dem emotionalen Ausnahmezustand. Was hier Gegenstand der Überlegung sein soll, ist die Reaktion der Öffentlichkeit, speziell der Medien auf diesen Film. Soweit ich sehe, ist nicht eine einzige bisher erschienen, die auch nur einen kurzen Moment zum Ausdruck gebracht hätte, dass sadomasochistische Beziehungen, noch dazu, wenn sie einem so ungleichen Paar widerfahren, dem ja kaum eine längere Zukunft beschieden sein dürfte, zumindest gewöhnungsbedürftig, um nicht zu sagen gefährlich sind.

Im Gegenteil: Voller Einfühlungsbereitschaft, ja voller Emphase versetzen sich vor allem weibliche Rezensenten in die Perspektive der 50-jährigen Hauptperson des Films. Da lesen wir beispielsweise die verständnisinnige Anteilnahme einer Rezensentin, die da sinniert: "Wie schlägt man jemanden? Wie dominiert man einen Menschen, ohne auf Accessoires aus der Tierhandlung zurückzugreifen? All das will gelernt sein." Wirklich? Will dergleichen wirklich gelernt sein? Wer so formuliert, gibt mit jeder Silbe zu verstehen, dass er selbst nicht die geringsten Einwände gegenüber der dargestellten Zweisamkeit hegt. Vielleicht hat der Mensch, der so formuliert, darüber lange nachgedacht. Vielleicht ist er danach zu dem Schluss gekommen: Ja, warum nicht schlagen lernen, des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Aber vielleicht ist es eben auch Gedankenlosigkeit, was ihn so identifikatorisch die Perspektive der Filmprotagonistin übernehmen lässt.

Und in diesem Fall darf und muss man doch Bedenken haben. Bedenken, die sich daraus speisen, dass es eben doch nicht das Nächstliegende oder auch nur Wünschenswerte ist, wenn Menschen, die sich lieben, ihre Liebe nur dadurch ausdrücken können, dass sie sich schlagen, um sich gezielte, Lust spendende Schmerzen zuzufügen. Dass da doch etwas schief gelaufen sein muss, wenn man auch noch die Umstände dazunimmt, dass es ja gerade eine frustrierte Ältere und ein verhaltensauffällig gewordener Jüngerer sind, die sich auf die merkwürdig schiefe Bahn einer SM-Beziehung begeben.

Man könnte nun lange nachdenken über seelische Dynamiken, die unter dem Namen "Identifikation mit dem Aggressor" der Psychiatrie wohlbekannt sind und die immer dann greifen, wenn eine gesellschaftliche Opfergruppe den Ausweg aus einer für sie demütigenden Asymmetrie sucht. Seit Michel Foucault und anderen wissen wir, dass Sexualität durchaus etwas Hinterfragbares ist, dass sie eine politische Komponente besitzt, dass sie auf Gesellschaft reagiert. Von daher kann man sehr wohl über Sexualität streiten, man kann von mehr oder weniger geglückter, von mehr oder weniger humaner Sexualität sprechen. Aber ausgerechnet, wenn ein ungleiches Paar im Sadomasochismus zu sich selber findet, tun wir auf einmal, als sei alles in Ordnung? Das ist zumindest bemerkenswert.

Man kann auch sagen: Es ist erschreckend, denn wer sagt uns, dass vor allem der jüngere, 16-jährige Part in dieser Beziehung nicht möglicherweise Schäden fürs Leben davonträgt? Wenn wir aber diese Frage vollkommen ausblenden, zeigen wir uns gerade nicht aufgeklärt und tolerant. Wir zeigen vielmehr die Fratze unserer Zeit, und diese Fratze heißt Trägheit des Herzens!

Tilman Krause, Literaturwissenschaftler und Journalist, 1959 in Kiel geboren, Studium der Germanistik, Geschichte und Romanistik in Tübingen. 1980/81 erster von vielen Frankreich-Aufenthalten, beginnend mit einer Stelle als Deutschlehrer am Pariser Lycée Henri IV. 1981 Fortsetzung des Studiums an der Berliner FU. Dortselbst 1991 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Publizisten Friedrich Sieburg, den ersten "Literaturpapst" der Bundesrepublik. Seitdem diverse Lehraufträge an der FU, der Humboldt-Universität, an der Universität Hildesheim und am Leipziger Literatur-Institut. Sein journalistischer Werdegang führte Tilman Krause über die "FAZ" (1990-1994) und den "Tagesspiegel" (1994-1998) zu seinem jetzigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der "Welt".
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