Die Todesanzeigen der Soldaten

Von Karlheinz Weißmann |
Wenn man die schöne, von Schinkel erbaute Kirche in Neuhardenberg betritt, geht man durch einen Vorraum. An der Wand zur Rechten sind sechs hölzerne Tafeln angebracht, darauf die Namen der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen aus der Gemeinde.
Das ist für sich kaum bemerkenswert, aber die Inschrift auf den Tafeln ist es: "Wenn unsre Zeit gekommen, so wollen wir ritterlich sterben für unsre Brüder und unsrer Ehre keine Schande machen." Der Satz stammt aus dem ersten Makkabäerbuch, einer Apokryphe des Alten Testaments, und dürfte den wenigsten noch bekannt sein. Was daran vor allem berührt, ist das anachronistische der zugrundeliegenden Vorstellung: Von den Gefallenen heißt es, dass sie ritterlich starben, dass dieses Sterben ein Opfer war und damit gleichzeitig der Ehre genüge getan wurde. Die Auffassung vom Soldatentod, die darin zum Ausdruck gebracht wird, unterscheidet sich nicht von der, die sich auf den anderen Gedenktafeln in der Kirche findet, die bis in die Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon zurückreichen und sorgfältig die Namen derer verzeichnen, die im Krieg als Soldaten starben.

Nun ist Neuhardenberg ein Ort am Rande, im Osten Brandenburgs, kurz vor der polnischen Grenze. Aber die beschriebene Art der Erinnerung ist auch sonst in den neuen Bundesländern verbreitet. In vielen Dörfern und Städten gehörte zu den ersten Maßnahmen nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes die Wiederherstellung der Gefallenendenkmäler, die geschleift worden waren, und die Errichtung neuer für die Toten des Zweiten Weltkriegs. Ein Vorgang, der in seltsamer Spannung zu jenem anderen, gegenläufigen steht, der im Westen der Republik seit den neunziger Jahren zu beobachten ist. Hier wuchs die Zahl der Initiativen, die Ehrenmäler von öffentlichen Plätzen verbannt sehen wollten und der Verantwortlichen, die die Restaurierung von Gedenktafeln oder -steinen verhinderten. Besonders deprimierend wirkte aber die Menge der gezielten Zerstörungsakte, das Beschmieren und Demolieren von allem, was irgendwie an die militärischen Traditionen Deutschlands erinnerte.

Die Öffentlichkeit hat darauf mit einem Achselzucken oder demonstrativem Desinteresse reagiert. Für die aufgeklärten Eliten ist das kein Thema; zum Konsens gehört, dass man damit nicht behelligt werden möchte, wenn überhaupt eine Stellungnahme folgt, zeugt sie von Unkenntnis oder pauschaler Verdammung, zumindest der "verbrecherischen" Wehrmacht. Sogar am Volkstrauertag, der - wie der Name sagt - ausdrücklich der Trauer über die Toten des eigenen Volkes dienen soll, ist bei offiziellen Veranstaltungen zu beobachten, dass Leiden und Sterben der deutschen Soldaten unerwähnt bleibt oder eingeebnet wird im Verhältnis zu dem der anderen Opfer oder sogar abgewertet im Sinne einer "Täterschaft", die Kampf, Verwundung und Tod nichtig macht.

Die Erinnerung an die Gefallenen wird so immer weiter aus dem öffentlichen Raum ins Private verbannt. Als einzige, die ihnen tatsächlich ein ehrendes Gedächtnis bewahren, bleiben die Hinterbliebenen übrig. Wie stark bei vielen die Trauer über den Verlust nach wie vor ist und die Entschlossenheit, das Andenken der Toten zu verteidigen, kann man den Anzeigen in den großen Tageszeitungen entnehmen, mit denen an die Gefallenen erinnert wird. Was auch immer sich diejenigen erhoffen, die diese mit einem Eisernen Kreuz markierten Anzeigen aufgeben, man kann sich der Wirkung kaum entziehen. Das sind Einzelschicksale: der gefallene Sohn, dessen die Eltern noch nach Jahrzehnten gedenken, drei Brüder, alle im Osten gefallen, die Anzeige gesetzt von der überlebenden Schwester, Vater und Sohn, die kurz hintereinander noch kurz vor Kriegsende, im Frühjahr 1945, sterben mussten. Aber an diesen Einzelschicksalen wird auch etwas deutlich, das über das Individuum hinausreicht: die Macht des Verhängten, die Pflicht, der sich keiner entziehen kann, und - immer wieder hervorgehoben - Treu und Glauben, dass notwendig war, was man tat.

Sogar im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte zum 60. Jahrestag des Kriegsendes bleibt das Schicksal der deutschen Soldaten ohne Belang. Bestenfalls erscheinen sie als Instrumente eines kriminellen Regimes. Von ihrer Ehre ist unter keinen Umständen die Rede. Wir haben uns damit sehr weit von den Auffassungen der Vergangenheit entfernt, die den Ereignissen ungleich näher waren und deshalb zu gerechteren Urteilen neigten. Das gilt auch und gerade für die Haltung derjenigen, die im Zweiten Weltkrieg auf der Seite unserer Gegner standen. Von dem französischen General Charles de Gaulle stammt der Satz "Die Seelengröße eines Volkes erkennt man daran, wie es nach einem verlorenen Krieg seine gefallenen und besiegten Soldaten behandelt."


Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, Historiker u. Studienrat, lebt in Göttingen. Er schreibt u. a. für die Beilage 'Das Parlament’ und veröffentlichte zahlreiche Bücher.