Die Thomaner in Leipzig

Wie ein Knabenchor sich aus der Coronakrise singt

09:53 Minuten
Gesangsprobe in einer Raum des Alumnats, dem Haus der Thomaner in Leipzig.
Gesangsprobe mit Abstand. © Alexandra Gerlach
Von Alexandra Gerlach · 01.09.2020
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Seit mehr als 800 Jahren singt der Leipziger Knabenchor vokale Musik. Die Beschränkungen wegen des Coronavirus haben auch dort das gewohnte Leben weitgehend lahmgelegt. Inzwischen laufen Proben und Konzerte wieder an - unter neuen Vorzeichen.
Seit dieser Woche sind die Sommerferien in Sachsen vorbei, das Alumnat, das Haus der Thomaner, mit angeschlossenem Internat, füllt sich wieder. Am vergangenen Freitag wurden hier 14 Viertklässler als neue "Thomasser", wie sich die Thomaner selber nennen, feierlich begrüßt. Jetzt geht es für die insgesamt knapp 90 Sänger wieder los mit dem Schul- und Choralltag, der in Coronazeiten etwas verändert beginnt, wie Geschäftsführer Emanuel Scobel erläutert:
"Wir sind im Eingangsbereich, hier werden gleich die Schüler der 5. bis 7. Klasse aus der Schule kommen und hier in unserer Hygiene-Schleuse von unserer Krankenschwester nach dem allgemeinen Wohlbefinden gefragt, es wird aufgenommen, wer alles ins Haus kommt."

Strenge Maßnahmen gegen Corona

In der kleinen Eingangshalle hat Krankenschwester Anne Wöhlert Platz genommen. Vor ihr auf dem Tisch liegen Papierbögen mit Namenslisten, sie hat einen Stift in der Hand. Jeder Schüler, der in das Haus möchte, muss hier anhalten und Fragen über seine Gesundheit beantworten.
Ein farbliches Leitsystem aus Pfeilen, Einbahnstraßensignets und grünen, stilisierten Fußabdrücken führt durch das weitläufige Gebäude, in dem die Sänger in gemischten Altersgruppen auf ihren Stuben leben. Es herrscht Maskenpflicht auf allen Wegen. Und auch im großen Speisesaal – dem Herzstück des Alumnats –, wo traditionell das gemeinsame Mittagessen mit einem Choral begonnen wird, musste alles neu geordnet werden.
"Im Moment kann nicht gesungen werden und sie sehen auch hier, wesentlich weniger große runde Tische und um jeden Tisch stehen nur vier Stühle. Und wir haben die Anzahl der Menschen, die gleichzeitig im Speisesaal sind, reduziert", sagt Scobel.

Eine ungewisse Zukunft

Seit dem Lockdown wegen des Coronavirus ist sein Arbeitsbereich im Dauerkrisenmodus. Unzählige Auftritte und mehrere Konzertreisen mussten abgesagt, Lehrkräfte anderweitig beschäftigt sowie Schüler nach Hause geschickt und doch bei Laune gehalten werden. Jede Menge Einnahmen gehen dem von der Stadt getragenen Knabenchor verloren, bei ungewissen Aussichten auf eine neue Normalität im Konzertgeschehen.
Thomaner-Geschäftsführer Emanuel Scobel.
Thomaner-Geschäftsführer Emanuel Scobel.© Alexandra Gerlach
Die größte Herausforderung gerade sei, einen positiven Blick in die Zukunft zu haben und auszustrahlen, dass der Chor in den vielen Jahrhunderten durch viele Krisen gegangen sei und sie auch durch diese Krise gehen können.

Die Digitalisierung einer analogen Institution

Deshalb habe man vor allem in den Wochen des Lockdowns intensiv Kontakt gehalten, sagt der Geschäftsführer. Per Brief und Mail, mit einem Motivations-T-Shirt, sowie Stimmbildungs- und Instrumentalunterricht per Zoom, WhatsApp oder Skype. Improvisation sei gefordert gewesen, meint Thomaskantor Gotthold Schwarz:
"Ich habe mit jedem einzelnen Thomasser telefoniert und auch zum Teil am Telefon geprobt. Darüber hinaus haben wir versucht via Skype oder Zoom mal eine Probe zu machen. Das gestaltet sich in größerer Zahl als schwierig, weil das doch zeitlich Verzögerungen gibt. Aber einzeln, am Telefon, das hat sich als gut erwiesen."

In der Zeit, als das Alumnat komplett geschlossen war, von Mitte März bis Ende Mai, habe er täglich Kontakt gehabt zu seinen Sängern, betont Schwarz. Jede Woche habe er zusätzlich einen brieflichen Gruß vom Thomaskantor sowie Übungsnoten verschickt:
"Ich habe viele Stücke eingerichtet mit Betonungen, Entspannungen, Kommazeichen, etc. und das haben wir mit den Noten an die Thomaner verschickt und habe dazu auch Probenanleitungen gegeben, indem wir die ganzen Partien eingesungen haben, also für Sopran, Alt, Tenor und Bass und das konnten die dann per Video abrufen zuhause und als Probenhilfe nehmen."

Es wird weitergesungen

Der zehnjährige Thomaner Joel Necker bestätigt, dass die Maßnahmen funktioniert haben: "Also ich habe jeden Tag so ein bisschen zu Hause geübt, alles durchgemacht. Herr Schwarz hat mir Noten geschickt und hat uns Anweisungen gegeben, Frau Vogel, meine Gesangslehrerin hat mir auch einige Lieder geschickt, die ich dann üben soll. Das ging ganz gut."
Joel hat den Choralltag sehr vermisst, er ist froh, dass seit Anfang Juni wieder eine gewisse Normalität – wenn auch mit Einschränkungen – im Thomanerchor eingezogen ist. Schon vor den Sommerferien durfte Joel wieder proben und war begeistert. Die Musik und das Chorleben bedeuten ihm viel: "Also ich finde Musik sehr schön, weil es auch Spaß macht, und man hat auch irgendwie ein Gefühl und, ja, man sieht Bilder vor Augen, die einem dazu einfallen!"
Seit Ende Mai finden auch wieder die gemeinsamen Gesangsstunden im Alumnat statt. Gearbeitet wird allerdings nur in kleinen Gruppen. Der große Übungssaal verfügt über eine spezielle Abluftanlage in der Decke, die stetig für umfangreichen Luftaustausch sorgt. Auf sechs weit auseinander aufgestellten Podesten haben sich sechs Sänger der 5-7. Klasse positioniert und singen sich ein.

"Unheimlich schön, mal wieder singen zu können"

Mit der Rückkehr in einen coronagerechten Chor-Alltag, mit kleinen Gruppen von Sängern im A- und B-Wochen-Rhythmus versucht Thomaskantor Schwarz die Thomaner wieder fit zu machen. Den jugendlichen Sängern gehe es dabei wie Spitzensportlern, die eine längere Auszeit oder einen Urlaub hinter sich hätten.
Bis auf Weiteres tritt der Thomanerchor nur in kleinen Formationen, so genannten Kantoreien mit maximal 15 Sängern auf. Vor jedem Auftritt werden die Sänger auf Corona getestet. Neben Konzerten in Erfurt, Merseburg, Quedlinburg und Zittau werde an kreativen Ideen für die Weihnachtskonzerte mit dem Gewandhausorchester gearbeitet, erzählt Emanuel Scobel. Die gemeinsamen Auftritte seien für die Chorseele essenziell, sagt der ehemalige Thomasser Dragan Lautenschläger, der bei der ersten Motette in der Thomaskirche nach dem Lockdown, Anfang Juni, mitsingen durfte:
"Es war einfach unheimlich schön mal wieder singen zu können, auch wenn natürlich durch die strikten Abstandsregeln das alles etwas komplizierter war. Aber insgesamt war das auf jeden Fall ein tolles Gefühl."

Die Gemeinschaft leidet

Lautenschläger war neun Jahre lang Thomaner und hat gerade sein Abitur abgelegt. Für ihn endete die Zeit im "Kasten", wie die Thomaner ihr Alumnat nennen mit den Sommerferien. Wehmütig schaut der Schüler auf die letzten Wochen Chorleben in der Coronakrise:
"Also was mir, und vor allem hier im Chor schon sehr fehlt, ist diese Chorgemeinschaft. Das ist das, was am meisten fehlt in dieser Zeit."
Ein Schicksal, das derzeit mehr als drei Millionen singende und fördernde Mitglieder in zehntausenden Chören bundesweit teilen. Vokale Musik hat es schwer in Coronazeiten, da die Ansteckungsgefahr durch Aerosole als besonders hoch eingeschätzt wird. Viele Chöre sehen einer ungewissen Zukunft entgegen.
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