Die Theologie von Karl Barth

Vom Happy End her gedacht

Der Schweizer Theologe Karl Barth
Der Schweizer Theologe Karl Barth © dpa picture alliance/ Karl Schnoerrer
Ralf Frisch im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 09.12.2018
Am 10. Dezember 1968 ist der „Kirchenvater des 20. Jahrhunderts“ Karl Barth gestorben. Der Theologe Ralf Frisch erklärt, warum Barths Theologie immer noch aktuell ist und was sie mit dem Fantasy-Buch „Der Herr der Ringe“ verbindet.
Karl Barth: "Ich hab seinerzeit im Römerbrief, meinte ich, einsetzen zu sollen mit einem ganz neuen Nachdruck des Hinweises vom Menschen weg auf Gott. Wir haben vorher, so um 1910 herum, in einer Atmosphäre gelebt, in welcher der fromme Mensch das eigentliche Thema der Theologie war. Und nun meinte ich, in der Bibel etwas anderes zu sehen und kehrte die Sache um und sagte: Lasst uns von Gott reden, von seinem Namen, von seinem Reich, von seinem Willen."
Anne Françoise Weber: So beschrieb der Theologe Karl Barth in einem Gespräch im Deutschlandfunk 1964 die Anfänge seiner Theologie. Am 10. Dezember jährt sich zum 50. Mal der Todestag dieses "Kirchenvaters des 20. Jahrhunderts", wie ihn manche nennen. Sein Hauptwerk, die "Kirchliche Dogmatik", umfasst 13 Bände und ist doch unvollendet geblieben. Politisch hat er sich nicht nur mit der "Barmer Theologischen Erklärung" in der NS-Zeit an die Spitze derer gestellt, die nicht wollten, dass die evangelische Kirche sich in den Dienst des Nazi-Regimes stellt. Welche Relevanz seine Theologie heute haben kann, warum sie vielleicht gerade besonders aktuell ist, darüber hat Ralf Frisch, Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg und theologischer Referent der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ein Buch geschrieben. Es heißt: "Alles gut. Warum Karl Barths Theologie ihre beste Zeit noch vor sich hat". Ich habe vor der Sendung mit Ralf Frisch gesprochen und ihn zunächst gefragt: In diesem Interviewausschnitt von Barth haben wir gehört, wie er sich gegen die damals herrschende Theologie weg vom Menschen und hin zu Gott gewandt hat. Lag das auch an der Erfahrung von Gewalt und Zerstörung im Ersten Weltkrieg? Seine Auslegung des Römerbriefs, über die er da spricht, die erschien ja 1919.
Ralf Frisch: Karl Barth hatte ja die Erfahrung gemacht, dass die Theologie des 19. Jahrhunderts, die vom Guten, Wahren und Schönen, vom edlen, ethischen Menschen ausging, trotzdem in der Lage war, sich auf die Seite der Kriegserklärung Kaiser Wilhelm II. zu stellen. Und dadurch wurde Karl Barth tatsächlich irre an diesem Menschen. Und dass die Feier der Humanität am Ende in humanitäre Katastrophen führte, das hat Barth wahrscheinlich so sehr zum Nachdenken gebracht, dass er sich dafür entschied, die Sache der Theologie den Menschen aus den Händen zu nehmen und von Gott her zu denken. Das geht natürlich nicht, aber er hat es trotzdem versucht, und vom frommen, ethischen Menschen weg das Evangelium zu verkündigen versucht. Ich glaube, das war der turn, die Bewegung von Karl Barth, um sozusagen den Menschen vor sich selbst in Sicherheit zu bringen.

Expressionistische Sprachbilder zerschlagen die schöne Theologie

Weber: In diesen frühen Schriften von Karl Barth sehen Sie eine Nähe zum Expressionismus. Was hat seine Theologie hier mit Kunst zu tun? Ist es die Sprache?
Frisch: Es ist die Sprache, es sind die Metaphern. Es ist viel von "Einschlagstrichtern" die Rede. Es wird sozusagen die schöne Theologie, die Eleganz der Sprache und der Humanität zerschlagen, und am Ende steht ein Trümmerfeld. Und Barth sah jetzt eben in diesem Trümmerfeld keinen anderen als Gott am Werk. Ich hab ja geschrieben in dem Buch, Karl Barth hat eine Art Ersten Weltkrieg gegen die Theologie seiner Zeit geführt und hat gewissermaßen klar gemacht, dass es nicht so weitergehen konnte. Und wenn man mal die Gedichte und die Kunstwerke des Expressionismus sich anschaut, dann erkennt man natürlich sehr wohl, dass diese Menschheitsdämmerung, diese Katastrophe der Kultur sich eben Bahn brach in neuen ästhetischen Formen. Und für Karl Barth waren es eben auch neue theologische Formen. Er versuchte, von Gott als dem ganz anderen zu reden, und benutzte Metaphern der Zerstörung, der Destruktion, der Formzerrüttung. Und das macht ihn, glaube ich, zu einem großen expressionistischen Avantgardisten.
Ein Schwarz-Weiß-Porträt von Ralf Frisch
Ralf Frisch© Johannes Minkus
Weber: Diese Andersartigkeit Gottes und auch die Unverfügbarkeit, das ist doch auch ein zentraler Gedanke dann seiner "Kirchlichen Dogmatik", die ab 1932 erschien. Ist auch da schon wieder ein Zusammenhang mit der Politik zu spüren? Kurz danach kamen die Nazis an die Macht, und da ging es eben um politische Vereinnahmung Gottes und der Kirche?
Frisch: Karl Barth war natürlich ein großer Detektor und Seismograf seiner Zeit und, aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs klug geworden, hat er dann sozusagen auch unter dem grässlichen Einfluss der Hitler-Diktatur eine Theologie betrieben, die sozusagen noch mal die Andersheit Gottes radikalisiert hat. Aber interessanterweise nun nicht mehr in einer destruktiven, negativen Sprache, sondern indem er eine große, schöne Geschichte erzählt, sozusagen das große Narrativ der Hoffnung, das Narrativ des Evangeliums gegen alle Mächte und Gewalten, die den Menschen von sich abhängig machen und immer wieder auch dazu bringen, sich selbst in Teufels Küche zu bringen.
Ich habe ja geschrieben, dass Karl Barths Theologie der Kirchlichen Dogmatik eine große fiktionale Gegenerzählung, ein großes Gegennarrativ gegen die beklemmenden Narrative auch der totalitären Denkformen ist. Und ich würde genau daran festhalten. Das Narrativ des Karl Barth erzählt die große Erzählung Gottes. Das ist es, mit dem er die Theologie an ihre eigene Sache erinnert hat damals. Und ich glaube, dass genau darin auch die Aktualität Karl Barths besteht, die Theologie und Kirche auch heute wieder daran zu erinnern, dass sie bei ihrem ureigensten Inhalt und ihrem ureigensten Element bleiben sollte.

Wie in Tolkiens "Herr der Ringe": Fiktionen können Leben retten

Weber: Auf den Blick auf heute will ich gern noch kommen. Aber jetzt will ich erst mal noch bei dieser Erzählung bleiben. Es ist ja nicht nur, dass Sie sagen, er vermittelt im Grunde die Botschaft, es wird ein Happy End geben, und es wird alles gut werden, deswegen halten wir jetzt die schweren Zeiten durch, sondern er denkt das wirklich von diesem Happy End her. Und da machen Sie eine Parallele zum "Herrn der Ringe" und einer bestimmten Szene auf. Das müssen Sie uns jetzt mal ganz kurz erklären, wie Sie dazu kommen.
Frisch: Ich bin ja auch ein großer Tolkien-Fan. Das Faszinierende ist ja, dass Tolkien sozusagen an einer Stelle seiner Erzählung, die die beiden kleinen Helden Frodo und Sam in aussichtsloser Situation dann dazu bringt, dass Sam sozusagen sagt: Stell dir vor Frodo, wir wären jetzt in einer großen Geschichte, wie würde diese Geschichte jetzt wohl nach unserem vermutlichen Tod erzählt werden? Werden wir jemals Eingang in eine solche Geschichte finden? Also Tolkien – das ist natürlich im Film nicht so deutlich, aber Tolkien thematisiert ständig immer wieder das Erzählen. Der Sam tröstet den Frodo dadurch, dass er sagt, stell dir vor, wir wären schon in dieser Geschichte und es gäbe dieses Happy End. Fiktionen, große Geschichten, haben die Kraft, uns sozusagen das Leben zu retten.
Und ich glaube, dass Barths große Geschichte, die er unverdrossen, munter, heiter und im Wissen darum erzählt hat, dass es keinen Grund der Welt gibt, Gott jemals zu beweisen, dass diese Geschichte als Gegenerzählung die eigentlich rettende Erzählung ist. Und wir können, das ist natürlich jetzt der Clou, niemals sagen, es ist eine Geschichte, die zu schön ist, um wahr zu sein. Und wir können genauso [niemals] sagen, es ist eine Geschichte, die zu schön ist, um nicht wahr zu sein. Über die Wahrheit dieser Geschichte können wir nicht urteilen, weil es im Glauben eben immer auch eine Entscheidung ist, welche Geschichten halten wir für wahr. Und ich glaube, das ist tatsächlich auch die große Herausforderung, vor die wir uns immer wieder selbst gestellt sehen: Welchen Narrativen trauen wir, welche Erzählungen über die Welt, über den Menschen, unser Leben sollen diejenigen sein, die wir für gültig halten.

Barth leitete eine große Gelassenheit aus seiner Theologie ab

Weber: Und Karl Barth hat dieses Narrativ dann auch Mut gegeben, politisch zu handeln und eben zum Beispiel nicht nur die "Barmer Theologische Erklärung" zu formulieren, sondern auch ganz konkret und persönlich den Beamteneid auf Hitler zu verweigern, beziehungsweise hätte er ihn nur mit einem Zusatz geleistet, nämlich "sofern ich das als evangelischer Christ verantworten kann". Das durfte er nicht, und das hat ihn dann wirklich seine Professur in Bonn gekostet und ihn zurück in die Schweiz gebracht. Er hat also aus dieser Geschichte mit Happy End ein politisches Handeln abgeleitet.
Frisch: Das hat er getan. Er hat zunächst mal, würde ich sagen, eine große Zuversicht und Gelassenheit abgeleitet. Das hört man ja auch, wenn man auch gerade den späten Barth reden hört, mit dieser Altersheiterkeit und Altersweisheit. Das zum einen. Aber er hat natürlich immer, also Zeit seines Lebens, von Anfang an eine Nähe zur Sozialdemokratie, also zu einer damals linken Politik gesehen und, mit Verlaub, das würde ich jetzt doch wagen, etwas kritisch zu sagen – es gibt ja viele in unserer Gegenwart, die den Karl Barth genau deshalb problematisch finden, weil er sozusagen direkt aus dieser Gottes-Story politisches Handeln abgeleitet hat. Es gibt ja immer so den schönen Satz bei Karl Barth: "Christus ist das Licht der Welt, daher ist Geheimdiplomatie jeder Art verboten". Und so sozusagen direkt aus Glaubensüberzeugungen auf politisches Handeln zu schließen, das hat er in guter reformierter Schweizer Tradition, wo ja die Gesellschaftsgestaltung und die politische Gestaltung der Welt sehr zentral ist, sehr exzessiv durchbuchstabiert.
Ich würde allerdings tatsächlich denken, dass die Theologie unserer Zeit auch in eine Falle geraten ist, wenn sie sozusagen alle theologischen Inhalte direkt in Politik, Ethik und Pädagogik überführt. Ich würde sagen, so wichtig das natürlich immer ist, dass das auch ein Thema ist, vor dem die Kirche und die Theologie unserer Zeit stehen. Ist sozusagen alles, was wir sagen, immer nur in Ethik auflösbar? Müssen wir uns dadurch anschlussfähig machen, dass wir immer nur von Ethik, von Politik, von Pädagogik, von Umweltschutz, von Bewahrung der Schöpfung, von Frieden und Gerechtigkeit reden, oder gibt es nicht auch Fragen im Leben, die eben nicht mit Ethik zu beantworten sind? Und ich glaube, diese letzten Fragen lagen Barth mindestens so sehr am Herzen wie sein politisches Engagement.

Das Böse konnte er als Schatten des Heils verharmlosen

Weber: Und im Grunde sagt Barth ja auch, Ethik ist nicht eine Aufgabe der Kirche oder des Menschen, so muss er oder sie sich gottgefällig verhalten, sondern auch Ethik ist Gnade, ist von Gott gegeben. Also Gott ermöglicht es uns, uns ethisch richtig zu verhalten.
Frisch: Ich würde es anders formulieren. Man könnte ja sagen, woher wissen wir, was gut ist – also die uralte ethische Frage. Und Karl Barth hat in seiner "Kirchlichen Dogmatik" diese Frage ganz klar beantwortet und hat gesagt: Wenn wir wissen wollen, was gut ist, müssen wir auf Christus schauen. Christus ist das Gute. Christus ist der Gute. Und Dietrich Bonhoeffer hat dann im Gefolge von Karl Barth oder unter wechselseitiger Beeinflussung eben dann eine Theologie gemacht, wo er gesagt hat, das Hineingezogenwerden in die Wirklichkeit dieses Christus, an dem wir sehen, was gut ist, und dass aber eben alles schon gut gemacht ist, das ist gewissermaßen die Pointe der Ethik.
Also auch eine Ethik des Lassens und des Weg-vom-Menschen, also vom frommen, aber auch vom ethischen Menschen weg sozusagen auf das Werk und die Gnade Gottes schauen. Das ist, glaube ich, eine Bewegung, die dann zu kurz kommt, wenn wir sagen: Wir wissen, was gut ist, das ist Gott, und also müssen wir gut handeln. Das stimmt natürlich, aber wir müssen, glaube ich, oder wir können uns auch, so würde es Barth wahrscheinlich gesagt haben, gesagt sein lassen, dass Gott von Anfang alles gut gemacht hat. Das führt natürlich immer wieder dazu, zu sagen: Karl Barth war letztlich ein großer Verharmloser des Bösen, bei allen Erfahrungen menschlicher oder kultureller Katastrophen ist ihm das Böse nie etwas anderes als der Schatten des Heils gewesen. Aber das war eben seine Entscheidung in einer großen Souveränität eine Geschichte zu erzählen, in der wie bei Frodo und Sam in Mordor sozusagen das Grauen immer schon überstrahlt ist vom Guten.
Weber: Also Gott steht im Zentrum oder Christus. Religion ist im Grunde Menschenwerk, was wenig damit zu tun hat. Kirche ist eigentlich auch nicht nötig. Das öffnet ja einerseits Perspektiven auf eine Welt, die eben auch ohne Kirche irgendwie christlich sein kann. Trotzdem gibt es ja bei Karl Barth so was wie ein Primat der christlichen Theologie. Er ist schon überzeugt, dass es der christliche Gott ist, der da im Zentrum steht. Für einen Dialog der Religionen oder auch zu sagen, das sind unterschiedliche Wege zu Gott, die können wir alle stehen lassen, dafür taugt diese Theologie dann irgendwie doch nicht.
Frisch: Es ist ja zunächst eine kirchliche Dogmatik. Also Theologie als Funktion der Kirche, als Selbstaufklärung der Kirche oder Selbstkritik der Kirche an sich selber. Aber ich würde schon sagen, Karl Barth hat eine sehr souveräne Religionskritik betrieben, die eine große Pointe hat, nämlich zu sagen, die Religionskritik trifft auch die christliche Religion. Das heißt, alle Religion ist und bleibt Menschenwerk, und es gibt keinen Weg vom Menschen zu Gott. Und Religion oder Glaube wird nur dann wahr, wenn Gott sich ihrer gewissermaßen erbarmt. Und er könnte sich jetzt eben prinzipiell auch einer religiösen Äußerung einer anderen Religion oder eines Atheisten erbarmen und die sozusagen im Licht der Gnade erscheinen lassen.

Auch das Christentum muss sich der Religionskritik stellen

Aber ich habe es immer genial gefunden, dass der Karl Barth eben nicht verzweifelt versucht hat, sozusagen die Plausibilität des Christlichen gegen die Religionskritik aufzuweisen, sondern immer gesagt hat, der Vorwurf der Religionskritik, dass wir uns Gott nur einbilden oder projizieren, den müssen auch wir Christen uns gesagt sein lassen. Natürlich ist das auch ein theologischer Trick, so zu tun, als sei Gott etwas völlig anderes als Religion. Aber ich finde es schon schlau, dass Barth sagt, es gibt weder gute noch schlechte Religion. Die Religionen sind alle sozusagen auf der gleichen Ebene. Und Religion an sich ist sozusagen weder gut noch schlecht, sie ist einfach ein Phänomen. Aber Gottes Barmherzigkeit ist sozusagen noch mal etwas ganz anderes. Und auch das macht ihn, glaube ich, aktuell in diesem großen Streit um Religion und Gewalt, um Perversion von Religion und auch um die neuen Religionskritiker, die sozusagen in der Religion die Wurzel allen Übels sehen. Ja, würde Barth sagen, es ist schon die Wurzel allen Übels, haben wir ja im Ersten und im Zweiten Weltkrieg gesehen, was passiert, wenn die Religion sich mit einer bestimmten hochproblematischen totalitären Politik einlässt.
Weber: Das ist jetzt ganz einleuchtend, dass das heutzutage eine Aktualität hat. Trotzdem frage ich mich: Wie können Sie sagen, die Theologie Karl Barths hat ihre beste Zeit noch vor sich, wenn 13 Bände "Kirchliche Dogmatik" heute wahrscheinlich noch viel weniger gelesen werden als das früher der Fall war?
Frisch: Ich würde schon sagen, dass die Aktualität Karl Barths nicht darin besteht, dass seine "Kirchliche Dogmatik" gelesen wird. Und ich glaube auch nicht, dass die Aktualität des Christentums sich daran messen lässt, ob Menschen die Bibel lesen oder in die Kirche gehen, um es mal radikal zu formulieren, sondern sozusagen, ob wir es ernst nehmen – ich sag es jetzt mal ganz steil, und vermutlich klingt das sehr fromm –, ob wir tatsächlich damit rechnen, dass es so was wie eine Vitalität Gottes gibt, die etwas anderes ist als der Mensch. Und wenn sozusagen die Frage, gibt es ihn oder nicht, diesen Gott, so beantwortet würde, dass wir sagen, ja, es gibt ihn, und er ist es, der die Welt im Innersten zusammenhält, dann würde ich immer sagen, gibt es eine große Gelassenheit, dieses Narrativ der Hoffnung zum einen zu erzählen, zum anderen aber eben einfach den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, wie ich es in einem meiner Kapitel geschrieben habe.

Das Leben getrost nicht perfekt und fragmentarisch leben

Ich hab ja mit so einer Szene aus einem Biergarten begonnen und mich gefragt, welche Form von Glaube, Kirche oder Religion ist es denn, was den normalen Menschen mit seinem wirklich gelebten Leben so tatsächlich unbedingt angeht. Und dann würde ich schon sagen, es ist eine Form von Glaube und Religion, die darauf verweist, dass es eine Macht gibt, die stärker ist als alles, was uns das Leben nimmt, und aufgrund derer wir guter Dinge säkular, nicht religiös oder gar atheistisch unserer Wege gehen können.
Weber: Und uns auch nicht dem Zwang zur Selbstoptimierung unterwerfen müssen, der unsere Zeit bestimmt?
Frisch: Ich habe immer gefunden, dass das eigentlich die große Freiheit ist, die Barths Theologie eröffnet, dass wir nicht krampfhaft uns zu besseren oder ethischen Menschen machen müssen, wie es ja jetzt im Internet, dem Leitmedium unserer Zivilisation, so der Fall ist. Die verzweifelte Suche nach Anerkennung und Aufmerksamkeit. Dass Barth das Gefühl hatte, wenn dieser Gott ein gutes, waches Auge auf mich hat, dann kann ich getrost in vorläufiger, nicht perfekter oder fragmentarischer Gestalt einfach mein Leben leben, so wie ich es lebe. Ich brauche weder einen religiösen noch einen ethischen noch einen körperlich oder psychisch vollkommenen oder gesunden Menschen aus mir zu machen, sondern kann sein, der ich bin. Und da würde ich schon sagen, da hat Karl Barths Theologie insofern ihre beste Zeit noch vor sich, als ich mir denke: Wenn die Theologie die Frage, ob es Gott gibt, mit ja beantwortet, dann kann sie entspannt sozusagen der großen Geschichte Karl Barths lauschen, der, glaube ich, tatsächlich bleibend aktuell ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Ralf Frisch: Alles gut. Warum Karl Barths Theologie ihre beste Zeit noch vor sich hat
Theologischer Verlag Zürich, 204 Seiten, 19,90 Euro

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