Die Tanzwütige

Von Mandy Schielke |
Müllberge, ein Call-Center, Hinterhofbauten und Feuerleitern - so sieht das Bühnenbild des Tanztheaterstücks "Megalopolis" an der Berliner Schaubühne aus. Eine der begabtesten Tänzerinnen ist die 27-Jährige Johanna Lemke.
Johanna Lemke: "Jetzt fühle ich mich so, ja, wie in einem Hafen angekommen. Die Sprache, die Constanza spricht, spricht mich total an, ich fühle mich extrem gefordert – was ich großartig finde - und auch gefördert. Ich vertraue ihr hundertprozentig."

Kraftvoll, wuchtig, manchmal aggressiv. So ist die Choreografie von Constanza Macras. "Megalopolis" ist eine fiktive Stadt, eine Großstadt mit extremer Bevölkerungskonzentration. Zwischen Leinwänden, über die hektische, manchmal bedrohliche Straßenszenen rauschen, platzt die Energie aus den Tänzern nur so heraus. Johanna Lemke mit langem Zopf und Puppengesicht tanzt Salsa auf dem Dach, wie es affektierter kaum geht. Kurz darauf rollt sie bedeckt von einer Plastikplane scheinbar beinlos auf einem Skateboard sitzend über die Bühne. Ein Polizist verscheucht sie, den Schlagstock scheut er nicht. Wild versuchen sich die Großstadtbewohner zwischen den Großstadtbauten zu verteidigen: ihr "Ich" zu verteidigen. Und:

"Am Ende ist nur noch der Körper da. Es gibt so viele Kostüme in diesem Stück, so viel Musik – soviel Alles. Und am Ende bleibt der nackte Körper."

Ihr Körper. Nackt in einem letzten Tanz, begleitet von drei Trommlern. Johanna Lemke tanzt allein, dreht sich, windet sich, wunderschön und kraftvoll. Die Stadt hat ihre Spuren an ihr hinterlassen. Druckstellen am Körper von einer Choreografie, die ihm nahezu jeden Aufprall zumutet. Die Nacktheit am Schluss des Stückes ist zugleich eine Metapher für Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit in der Großstadt.

Im wirklichen Leben hat die Großstadt es immer gut mit ihr gemeint, sagt Johanna Lemke. Jeans, Stiefel, Streifenpulli. Sie sitzt auf einem weißen Ledersofa in einem Künstleratelier. Sie meint Berlin. Dort, in dieser langsamen Großstadt, hat Johanna Lemke einen Großteil ihrer Tanzausbildung absolviert, hier lebt und arbeitet sie. Und hier ist sie ohne Geschwister bei ihrer Mutter, einer Germanistikprofessorin, aufgewachsen – ganz ohne Druck. Das Abi brach sie ab, das Gefühl von Ehrgeiz kannte sie lange nicht. Abends tanzte sie ab und zu in einem Tanzstudio, machte dort im Dock 11 im Prenzlauer Berg auch ein Praktikum. Planlos.

"Dann kam eine Freundin und meinte, sie würde jetzt irgendwo vortanzen gehen und eigentlich aus Trotz bin ich dann auch hin. Dann hat das geklappt."

Das war 2001, da war Johanna Lemke neunzehn Jahre alt. Schon ziemlich alt, um eine Laufbahn als Tänzerin zu beginnen, sagt sie lächelnd und trinkt endlich ein Schluck von ihrem Tee. Drei Jahre dauert ihre Ausbildung zur Zeitgenössischen Bühnentänzerin an der privaten Tanzschule "Balance 1" in Berlin Tempelhof.

"Diese Disziplin, das kannte ich vorher nicht. Ich war immer so aus dem Bauch heraus. Alles oder Nichts. Durchs Tanzen ist mir eigentlich bewusst geworden, dass es auch etwas anderes gibt. Disziplin gehört zu diesem Beruf einfach dazu."

Zwischendurch wechselt sie an eine Tanzschule nach Amsterdam. Lange bleibt sie nicht. Johanna Lemke will zurück nach Berlin. Zurück ins Provisorium, in die kreativen Nischen. Dorthin, wo mit Tanz experimentiert wird. Die großen, konventionellen Shows interessieren sie nicht, genau so wenig, wie sie das klassische Ballett interessiert. Da fehlt die Lebensfreude, erklärt die 27-Jährige. Mit den Choreografen Martin Stiefermann und Felix Ruckert arbeitete sie in Oldenburg und in Berlin. Marco Santi holt sie ans Theater nach Osnabrück. Seit vergangenem Jahr gehört Johanna Lemke zur Tanzkompanie "Dorky Park" der argentinischen Choreografin Constanza Macras.

"Ich hatte immer viele Freunde, die mit ihr gearbeitet haben, ich fand das auch schon lange toll. Aber es hat sich nie ergeben, dass ich mich vorstellen konnte, ich war selten in Berlin und wenn ich da war, gab es keine Audition."

Also keinen Termin, bei dem Johanna Lemke hätte vortanzen können. Doch dann lernen sich die Tänzerin und die Choreografin doch noch kennen, im Internet, auf der sozialen Plattform Facebook. Beide hatten dort gemeinsame Freunde und beide waren zur gleichen Zeit schwanger und das lieferte Gesprächstoff. Irgendwann waren die Kinder dann geboren und Constanze Macras bat wieder zum Vortanzen. Endlich. Johanna Lemkes Sohn war zu diesem Zeitpunkt noch kein halbes Jahr alt.

"Und ich war total unfit, weil ich ja gerade mein Kind zur Welt gebracht habe. Aber ich bin trotzdem hingegangen. Ich dachte, ich will sie jetzt kennen lernen. Gerade auch weil wir uns jetzt ja doch irgendwie kannten. Dann hat sie mich aber gar nicht erkannt."

Johanna Lemke kam von einer Runde in die nächste und dann, dann war sie dabei, Ensemblemitglied bei Dorky Park. Ein großer Wunsch ging in Erfüllung. Nun musste sie wieder jeden Tag proben, tanzen und tanzen, manchmal acht Stunden am Tag. Der jungen Mutter und ihrem Körper hat die Produktion eine Menge abverlangt.

"Mal bin ich ganz euphorisch und manchmal komme ich mir dann vor wie eine Rabenmutter. Aber ich habe Glück, dass wir zwischendrin Pausen haben. Dann bin ich ganz die Glucke, die auch nichts anderes will."

Gemeinsam mit ihrem Freund und dem gemeinsamen Sohn wohnt Johanna Lemke im Berliner Stadtteil Wedding. Nicht in der neuen Hip-Gegend in der Nähe des Humboldthains, sondern dort, wo man für viel Platz immer noch wenig Miete zahlen muss. Sie und ihr Freund müssen es allein schaffen - Familie und Beruf - und manchmal ist das gar nicht so leicht, sagt die Tänzerin. Die Eltern leben weit weg. Denkt man an ihre energiegeladenen Szenen in Megalopolis, hat man keinen Zweifel. In Johanna Lemke steckt Kraft für viele Rollen.

Service:

Das Stück "Megalopolis" mit der Tänzerin Johanna Lemke ist am 2.,3., 5. und 6. Mai an der Berliner Schaubühne zu sehen. Ende Mai hat ihr erstes eigenes Stück Premiere im Dock 11 in Berlin Prenzlauer Berg.