Die Suche nach einer neuen Identität

15.09.2010
Von der Kohle- und Stahlmetropole zu einer postindustriellen Landschaft. Den facettenreichen Wandel des Ruhrgebiets hat eine Textsammlung festgehalten, die auch die ungewöhnlichen kulturellen Leistungen der Region schildert.
Der Ruhrpott – hier in Oberhausen mit den Misfits – kocht!

Dabei gibt es den Ruhrpott so eigentlich nicht mehr. Rund um den Gasometer von Oberhausen, der hier besungen wird, gibt es keine Stahlwerke mehr, sondern ein riesiges Einkaufszentrum beherrscht die Landschaft wie ein gestrandetes Raumschiff aus einer fremden Galaxie. Dass Ruhrgebiet wie man es kannte, als eine Ansammlung rauchender Schlote und vergifteter Flüsse, ist Geschichte.

"So lebe ich in so größerer ungezweifelter Zuversicht, Ehrwürdige Kurfürstliche Durchlaucht werden gnädigst geruhen, ..."

1752 bittet Franz Ferdinand von der Wenge seinen Erzbischof um die Genehmigung zu Errichtung einer Eisenhütte -

"... mir sowohl für mich und meine Erben die wirkliche gnädigste Belehnung mit der Freiheit und der Rechte in Anlegung einer Eisenhütte und dazu zum Guss, Ziehung und Hammer dienlichen Öfen und Häuser, nebst etwa dreißig freien Jahren gnädigst zu belehnen."

Dieses Schreiben finden wir in einem zweibändigen Werk, das unter der Federführung von Klaus Tenfelde und Thomas Urban von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum zusammengestellt wurde.

Für Klaus Tenfelde dürfte es ein Herzensprojekt gewesen sein, das ihm im Kulturhauptstadtjahr ermöglicht wurde. Tenfelde ist Sohn eines Tiefbauarbeiters und absolvierte eine Lehre im Bergbau, bevor er im zweiten Bildungsweg Geschichte und Germanistik studierte. Er verkörpert die Geschichte des Ruhrgebiets von der Malocherregion unter Tage und im Stahlwerk zur Bildungslandschaft von heute.

Das zweibändige Lesebuch mit 1.100 Seiten, das Tenfelde und seine Mitarbeiter zusammengestellt haben, erfasst in Aufsätzen die Entwicklung der Region, beginnend mit dem 9. Jahrhundert und endend mit der Europäischen Kulturhauptstadt 2010. Das älteste der vielen lesenswerten Dokumente ist die Lebensschilderung eines Mönchs aus dem 9. Jahrhundert; 1871 – ein Brief Alfred Krupps an seinen Kaiser: "Wir leben jetzt in der Stahlzeit"; 1945 vermeldet ein Feuerwehrchef stolz, er habe einen russischen Kriegsgefangenen erschossen, weil der einen Salzstreuer gestohlen habe; 1964 resümiert eine wissenschaftliche Untersuchung den Strukturwandel des Reviers, und schlussendlich ist die Selbstbeschreibung dokumentiert, in der sich 2010 die "Metropole Ruhr", wie sie sich jetzt versteht, präsentiert. Die Dokumente entstammen dem Wirtschaftsleben, der Politik, der Kultur – und der Alltagskultur.

"Das größte Plus für die Lebensqualität zwischen Recklinghausen und Hattingen, Duisburg und Unna ist die Trinkhalle oder Seltersbude – kurz: die Bude – ein nicht wegzudenkender Versorgungsstützpunkt, der elementare Grundnahrungsmittel wie Flaschenbier, Kartoffelchips und Klümpchen auch jenseits der üblichen Ladenöffnungszeiten bereithält. Beim Wohnungswechsel innerhalb des Ruhrgebiets achten echte Kenner weniger auf die Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr als auf die Entfernung zur nächsten Bude."

Die Würdigung der "Bude" durch den Schriftsteller Frank Goosen ist in den beiden Büchern ebenso abgedruckt wie auch Herbert Grönemeyers "Currywurst-Song".

Das Ruhrgebiet war vor hundert Jahren das industrielle Herz Deutschlands: Schmieden und Stahlwalzen, Fördertürme und Abraumhalden beherrschten das Bild. Unter Tage wurde malocht.

"Maloche is´es immer noch"

Ende der 1950er-Jahre setzte der Niedergang der Schwerindustrie ein. Bald standen Zechen und Stahlwerke zum Abriss bereit. Und das Lesebuch dokumentiert die Versuche, zumindest die Wahrzeichen des alten Ruhrgebiets zu bewahren:

"Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Wir erlauben uns, Sie auf den möglichen Verlust eines bedeutenden Industriebauwerks des Ruhrgebiets hinzuweisen und Ihnen die Bitte vorzutragen, dass Sie sich für dessen Erhaltung einsetzen möchten."

1969 erging dieser Bittbrief von Künstlern wie Günther Uecker und Bernhard und Hilla Becher an den Ministerpräsidenten Heinz Kühn, um die Maschinenhalle der Zeche Zollern zu retten. Die Autoren wollten mit den beiden Bänden eine Materialsammlung für Schulen und Seminare vorlegen. Gelungen ist ihnen weit mehr: Im Schuber steckt – Aufsätze und Dokumente zusammengenommen - das Porträt einer Landschaft und ihrer dramatischen Wandlungen durch die Jahrhunderte. Die 44 Euro sind ein Pappenstiel, wenn man bedenkt, was man dafür bekommt.

Besprochen von Paul Stänner

Klaus Tenfelde / Thomas Urban (Hg.): Das Ruhrgebiet. Ein historisches Lesebuch
Klartext Verlag Essen
2 Bände im Schuber, 1106 Seiten, 44 Euro