Die Suche nach der Sprache

Von Antje Bauer · 12.03.2007
Semra A. lebt seit zehn Jahren in Berlin, doch ihre Deutschkenntnisse sind mangelhaft. Wie schlägt sich jemand durch den Alltag, wenn Verständigung fast unmöglich ist? Semra A. verlässt sich auf einen dicken Ordner, der ihre Probleme mit den Behörden umfänglich dokumentiert. Und sie baut auf die Hilfe jener, die die deutsche Sprache beherrschen. Den Rest des Tages zieht sie sich zurück.
Semra A. lebt seit zehn Jahren in Berlin, doch ihre Deutschkenntnisse sind mangelhaft. Wie schlägt sich jemand durch den Alltag, wenn Verständigung fast unmöglich ist? Semra A. verlässt sich auf einen dicken Ordner, der ihre Probleme mit den Behörden umfänglich dokumentiert. Und sie baut auf die Hilfe jener, die die deutsche Sprache beherrschen. Den Rest des Tages zieht sie sich zurück.
Auf der Suche nach der Sprache. Ein Ländereport von Antje Bauer.

Semra A. kramt in ihrer Küche. Stellt Teetassen und Zucker auf ein Tablett. Auf dem Herd steht das für türkische Haushalte typische Teedoppel: ein Kessel mit kochendem Wasser, darauf eine Kanne mit Teekonzentrat. Überall in der Einbauküche kleben kleine Zettel, auf die Semra A. deutsche Begriffe und ihre türkische Übersetzung geschrieben hat.

Semra A: "Das begreife ich nicht. Wenn schon denn schon. Obwohl er nicht gut spricht, kann ich ihn verstehen."

Seit 10 Jahren schon lebt Semra A. in Deutschland, aber mit der deutschen Sprache hapert es noch. Das möchte sie nun ändern. Daher die Zettel. Und um der deutschen Sprache willen läuft im Wohnzimmer ein deutsches Fernsehprogramm, eine Reality-Show.

Semra A. versucht, sich an den Titel der Sendung zu erinnern.

"Gefändnis, Gefändnisnis.. ."
"– wie heißt es, wenn einer jemanden betrogen hat und das jetzt zugeben soll? Geständnis. Eigentlich habe ich einen großen Wortschatz im Deutschen, oder?"

Semra A. ist eine sogenannte Importbraut, eine der jungen Frauen, die in der Türkei aufwachsen, einen Deutschtürken heiraten und dann nach Deutschland kommen. Dem Klischee von einer bäuerlichen, tiefreligiösen Importbraut entspricht sie freilich nicht: Sie trägt enge Hosen und offene, blondierte Haare. Geboren und aufgewachsen in einem Arbeitervorort von Istanbul, lernte sie mit 24 in einer Istanbuler Cafeteria, in der sie arbeitete, einen jungen Türken aus Berlin kennen, der um ihre Hand anhielt. Sie willigte ein, obwohl sie ihn kaum kannte. Immerhin lebte er in Deutschland. Als sie zu ihrem Mann nach Berlin zog, war die junge Frau schon im sechsten Monat schwanger. Die Ankunft wurde zum Schock, denn statt des Palastes, den ihr Mann ihr versprochen hatte, fand sie sich in einer unmöblierten Einzimmerwohnung in einem Berliner Arbeiterbezirk wieder.

"Wir wohnten im Wedding in der Koloniestraße, in einem Haus voller Araber. Es gab keinen Strom und kein Wasser, weil er die Rechnungen nicht bezahlt hatte; es war eine leere Wohnung nur mit einem Bett. Einmal saßen wir da bei Kerzenlicht, da sah ich eine Maus springen und rief: Oh! Eine Maus! Und er antwortete, ach was, wie kommst du denn darauf! Später habe ich erfahren, dass Deutschland das Paradies der Mäuse ist."

In Berlin lebende Verwandte nahmen sich des jungen Paares an. Sie renovierten die Wohnung, schenkten ihnen Möbel und Hausrat. Dann saß Semra den lieben langen Tag alleine in der Wohnung herum. In Istanbul hatte sie gearbeitet. Nun fiel es ihr schwer, solch ein abgeschiedenes Leben zu führen. Doch ihr Ehemann blockte alle ihre Versuche ab, die Isolation zu überwinden.

"Ich habe ihm vorgeschlagen, eine Cafeteria zu eröffnen, da ich damit Erfahrungen hatte, aber er hat das abgelehnt, weil die Männer mich dann anstarren würden. Dann wollte ich einen Deutschkurs besuchen, dagegen war er auch: Wozu ich das denn bräuchte, hat er gefragt, ob ich vielleicht Anwältin oder Ärztin werden wollte? Daraus wurde also auch nichts."

Semra A. bekam einen Sohn und zwei Jahre später noch einen. Sie lebte in ihrer Wohnung wie auf einer Insel. Mit Deutschen hatte sie keinerlei Kontakt.

"Ich war immer zu Hause. Mein Mann hatte eine Tante, die haben wir einmal besucht. Freunde hatte er nicht. Spaziergehen konnte ich auch nicht, ich kannte mich doch gar nicht aus! Aber zwei Stockwerke höher wohnte eine türkische Nachbarin, die hat mich über vieles aufgeklärt. Zum Beispiel habe ich von ihr erst erfahren, dass es hier Kindergeld gibt. Mein Mann hat mir davon nichts gesagt. Eines Tages habe ich meinem Mann gesagt, daß ich ihn verlassen werde, und daraufhin hat er mich verprügelt."

Die türkische Nachbarin erzählte ihr auch von der Existenz eines Frauenhauses. Und dorthin flüchtete Semra A., zusammen mit ihren Kindern.

"Das Frauenhaus war sehr gut für mich, ein Glück, daß es das gab, das finde ich großartig an Deutschland. Die ersten Deutschen überhaupt habe ich dort kennengelernt. Und danach habe ich ein eigenes Leben angefangen. Toi toi toi (küsst ihre Hand): Das mache ich jetzt mal gegen den bösen Blick."

Seit fünf Jahren lebt Semra nun in einer schönen, gepflegten 3-Zimmer-Wohnung in einem Randbezirk von Berlin. Sie bezieht Sozialhilfe und verdient selber ein bisschen dazu, als Vertreterin. An ihrem Inselleben hat sich freilich nicht viel geändert. Lebensmittel kauft sie bei Penny, da muss sie mit niemandem Deutsch reden, Fleisch beim türkischen Metzger, Kleidung bringt sie aus der Türkei mit. Auch mit den Nachbarn hat sie keinerlei Kontakt.

"Die Frau hier gegenüber, eine Deutsche, hat mehrere Kinder, sie war dreimal verheiratet – was soll ich mit der reden? Die Nachbarn oben drüber sind Türken und Polen, darüber wohnen lauter Türken, und noch weiter oben Türken und Araber. Auf der Treppe sagt man Hallo, guten Morgen, Tschüß, guten Abend."

Eine Zeitlang kam eine Betreuerin vom Jugendamt zu Semra A., weil die Kinder in der Schule immer aggressiver wurden. Diese Betreuerin war die einzige Deutsche, die Semra näher kennenlernte, und die ihr einen denkbar schlechten Eindruck hinterließ, weil sie sich, immer ein Stück Obst mitbrachte und das allein verzehrte. Irgendwann fasste sich Semra ein Herz und kritisierte die Betreuerin.

"Ich habe eine Frage: Warum die alle deutsche Menschen so? Sie kommt immer mir, ich bereite nicht nur für dich. Sie kommt mir immer Gemüse mitbringen, und aber sie essen allein, warum bieten sie bei uns. Sie hat gesagt: Das ist unsere Religion so."

Fahrt ins Stadtzentrum. Wann immer Semra A. unterwegs ist, trägt sie einen Ordner mit sich; er enthält Papiere, aus denen, zumeist in schwierigem Behördendeutsch, hervorgeht, dass die junge Frau zahlreiche Probleme mit den Behörden hat, und die sie hervorkramt, sowie sie mit jemandem in Kontakt kommt, der gut Deutsch kann, in der Hoffnung, dass dieser ihr weiterhilft. Heute geht es darum, bei der Lösung ihres größten Problems voranzukommen: Im Sommer hat sie versucht, zusammen mit ihren Kindern in die Türkei zurückzusiedeln; seither ist ihr wegen versuchter Kindesentführung das Sorgerecht entzogen worden; die beiden Söhne leben nun beim Vater und dessen zweiter Frau, und Semra darf sie nur alle zwei Wochen für zwei Tage zu sich nehmen. Nun ist sie auf dem Weg zu einem Anwalt, der diese Verfügung rückgängig machen soll. Die Anwaltskanzlei liegt im Stadtteil Schöneberg. Semra A. fährt eine geschlagene Stunde vor dem Termin dorthin, um sicherzugehen, dass sie die Adresse auch findet. Nach zehn Jahren Aufenthalt in Berlin weiß sie noch immer nicht, dass die Hausnummern in dieser Stadt unterschiedlich gezählt werden, je nachdem, ob es sich um eine alte oder eine neue Straße handelt. Kein Wunder, dass sie sich immer wieder verläuft. Aber diesmal geht es glatt. Da Semra der Ansicht ist, dass sie schon ganz gut Deutsch kann, hat sie keinen Übersetzer mitgenommen. In der Kanzlei trägt sie dem Anwalt ihr Anliegen vor:

"Die Kinder nächste Jahre zwei Monate bei ihm die Schule angefangen, bei Pappa, danach ich hab erzählt die Leben nach Türkei, wir möchten nach Türkei leben, dann ok tschüss, wir verlassen Deutschland, er hat gesagt ok., danach zehn Tage er hat für mich Anzeige gemacht.. ."

Lauter Worte sagt Semra A. dem Anwalt, deutsche Worte, aber Sprache, das wird hier schmerzlich deutlich, ist eben mehr als nur eine Aneinanderreihung von Worten. Der Anwalt wirft einen Blick in die Papiere, die Semra mitgebracht hat und schlägt ihr vor, zu einer türkischstämmigen Anwältin zu wechseln, um das Sprachproblem zu vermeiden. Er spricht dieser auch gleich eine Nachricht aufs Band.

Der Anwalt gibt Semra A. die Adresse der Kollegin. Der geht das alles zu schnell. Verunsichert fragt sie:

Semra A.: "Wo liegt?"

Anwalt: "Die Pohlstraße ist auch hier in Schöneberg."

Semra A.: "Wir gehen jetzt?"

Der Anwalt erklärt ihr, dass sie zuerst telefonisch einen Termin ausmachen müsse. Es ist hier nicht wie in der Türkei, dass man einfach irgendwo hingehen könnte und empfangen würde. Kaum hat sich die Tür der Kanzlei hinter uns geschlossen, fragt sie mich:

Semra A.: "Was hat er gesagt, Antje?"

Es ist, als wäre die deutsche Sprache für Semra A. wie ein Strom von Menschen, in dem sie ab und zu Bekannte entdeckt, an denen sie sich orientiert. Doch der Hauptteil des Stromes fließt an ihr vorbei. Nun gibt es also eine neue Adresse, die sie irgendwann wird aufsuchen müssen. Semra findet das beunruhigend. Am liebsten würde sie sofort zu Fuß dorthin gehen, um den Ort schon mal gesehen zu haben. Aber wie findet sie heraus, wo diese Straße ist? Sie geht zu einem Imbiss, vor dem zwei Bauarbeiter eine Currywurst vom Pappteller essen und fragt den Inhaber, der sich über seine Theke lehnt.

Semra A.: "Ja, Tschuldigung, sind Sie Deutsch? Ich bin fremd in Deutschland. Ich möchte diese Adresse.. suchen."

Imbissinhaber: "Pohlstraße 65, Pohlstraße.. ”"

Semra A.: ""Wo liegt?"

Imbissinhaber: "Die jeht vonner Hauptstraße.. . Dis is hier falsch, dis is hier falsch."

Semra A.: "Frage: Welche Bezirk?"

Imbissinhaber: "Bezirk Schöneberg. Aber Schöneberg ist sehr groß. Bis zur Kurfürstenstraße mit der U-Bahn, und da geht die Pohlstraße ab. Nicht hier."

Semra A. "Aahh. Pohlstraße. Kurfürsten- äh.. straße.. . Nachher Woolworth."

Imbissinhaber: "Genau."

Woran orientiert man sich in einer Stadt? Welche Assoziationen erzeugt eine Adresse? Die Berliner Pohlstraße kreuzt die Kurfürstenstraße. In dieser Straße liegt eins der schönsten Berliner Cafés, das Café Einstein. In der Pohlstraße selbst wurde Anfang der achtziger Jahre mal ein Haus besetzt. Aber Semra hat ihre eigene Geographie, und zu der gehören weder feine Cafés noch besetzte Häuser, sondern der Billigladen Woolworth. Es ist zu spät, um kurz mal die Pohlstraße in Augenschein zu nehmen; Semra möchte lieber gleich nach Kreuzberg fahren, um ihre beiden Söhne im Mieterzentrum abzuholen, wo sie sich nach der Schule aufhalten. Das ist der einzige Moment am Tag, an dem sie ihre Kinder sieht, seit sie bei ihrem Vater leben.

Das Mieterzentrum schließt gerade, als wir ankommen. Semra gibt ihren beiden Söhnen Bonbons und schärft ihnen ein, sie erst nach dem Essen zu lutschen. Dann lädt sie die beiden zu einem schnellen Mittagessen an einem türkischen Imbissstand ein. Für heute steht noch der Besuch bei einem Sozialarbeiter auf dem Programm: Er soll zwei weitere ihrer Probleme lösen: Eine Handyfirma fordert von ihr eine saftige Strafe, weil sie angeblich mit der Zahlung von Handygebühren im Rückstand ist. Außerdem hat man ihr den Führerschein abgenommen, und sie hat sich nicht zum Idiotentest gemeldet. Jetzt soll sie über 100 Euro zahlen, als Verwaltungsgebühr, ohne ihren Führerschein zurückzubekommen. Ziemlich viel Geld für einen Menschen, der Sozialhilfe bezieht. Warum das so ist, hat sich ihr aus dem Schreiben nicht erschlossen. Das soll nun der türkische Sozialarbeiter der Arbeiterwohlfahrt klären.

Der Sozialarbeiter Ercan Yasaroglu hält seine Sprechstunde im Freien ab, auf einer Wiese vor einem alten Backsteinbau. Türkische Familien sitzen unter einem alten Baum und warten darauf, dass sie an die Reihe kommen, Kinder spielen, aus einem Fenster des Backsteingebäudes wird billig Tee verkauft. Vom anderen Ende der Wiese kommt der Sozialarbeiter herbeigeeilt und lässt sich Semras Papiere zeigen.

Ercan Yasaroglu ist nicht nur sprachlich ein Mittler, sondern er weiß, im Gegensatz zu Semra A., wie man in Deutschland Dinge angeht. Er solle bei der Handyfirma anrufen, fordert ihn Semra auf. Es sei schon sechs, da treffe er niemanden mehr an, erwidert der, kopiert sich aber ihre Papiere. Morgen wird er anrufen, verspricht er. Semra fährt nach Hause.

Die Abende verbringt die junge Türkin zumeist allein zu Haus. Schaut Fernsehen. Zur Abwechslung mal türkische Reality Shows. Kocht türkischen Tee. Liest ein deutsches Kinderbuch.

"Max in der Klasse. Max okulda."

Sie schreibt sich neue deutsche Worte auf.

"Eigentlich bin ich stolz auf mich. Wie heißt stolz auf deutsch?"

"Ich bin stolz. Gurur duyuyorum. Ich bin stolz auf mich."