Die Stunde der Renegaten
Der gütige Lesegott, an dessen Existenz ich keinen Zweifel hege, führt mir stets die richtige Lektüre zu. Neulich ließ er mich nach Kierkegaard greifen. Sie wissen schon, diesen tief depressiven Sinnenfinsternis-Apologeten aus dem 19. Jahrhundert ... irgendwie schien er zur trüben Zeitungslektüre am Morgen zu passen.
"Wenn ich Vater wäre und ich hätte eine Tochter, die verführt worden wäre", schrieb der zeitlebens jungfräulich gebliebene Philosoph, "über sie würde ich nicht verzweifeln; ich würde auf Rettung hoffen. Wenn ich aber einen Sohn hätte, der Journalist würde und es fünf Jahre lang bliebe, ihn würde ich aufgeben." Holla, dachte ich, der Mann hatte einen prophetischen Blick. Denn: "Politik zu dienen mit Hilfe von Tages-Presse", notierte Kierkegaard angewidert, "das ist zuviel für einen Menschen."
Mal abgesehen davon, dass Journalisten heute eher sich selbst als der Politik dienen wollen, zeigt der mediale Krisen-Overkill der letzten Wochen, dass Kierkegaard in einem Recht hatte: Journalismus ist zuviel für einen Menschen, eine charakterliche Herausforderung, an der er nur zerbrechen kann. Waren die Verhältnisse eben nicht noch so, dass man nur in Lohn und Brot stand – na, sagen wir besser: in Bonus und Kaviar –, wenn man vorbehaltlos die freien Märkte besang?
Und muss man nicht jetzt das Loblied auf den starken, eingreifenden, regulierenden Staat intonieren, sich selbst also diametral widersprechen? Das hält der stärkste Charakter nicht aus, weswegen man ihn im Korps der politischen Publizistik auch selten findet. Wohin man sein Ohr auch wendet, überall zirpen die Renegaten ihr flugs von Dur auf Moll umgestimmtes Lied: "Heil dir im Spenderkranz, du gütiger, weiser, väterlicher Staat!"
Dass sich strukturell wenig bis gar nichts verändert, wenn politische Funktionäre das Geschäft von Wirtschaftsfunktionären übernehmen, und es Myriaden von Beispielen gibt, in denen Funktionäre gleich welcher Herkunft nur ans eigene Wohlergehen denken, bleibt außen vor. Aber ehrlich gesagt kann einen dieser flache Perspektivwechsel ohne Rücksicht auf größere Zusammenhänge auch nicht wundern, sind die allermeisten publizistischen Meinungsmacher ebenfalls nur Medienfunktionäre im Angestelltenverhältnis. Das Renegatentum – also die schnelle Anpassung an veränderte Machtkonstellationen – ist ihnen gewissermaßen eingeboren, und in Zeiten der Krise tritt das eben unverhohlen zutage.
Man könnte sogar entschuldigend sagen, dass bei gewissen Berufsgruppen opportunistische Blindheit zwingend zur psychischen Grundausstattung gehört, sonst wäre der Beruf kaum auszuhalten. So viele Umschwünge im Laufe eines Lebens, da bleibt nur im Geschäft, wer sich als biegsam erweist und dabei keinen Schmerz empfindet.
Im Juni 1945 etwa, einer für Renegaten nicht eben einfachen Zeit, beobachtete Erich Kästner grimmig amüsiert, wie sich Mitläufer des alten Regimes ins neue System hinüber retteten. Präzise lautete seine daraus gewonnene Definition des Opportunisten: "Er ist, weil man mit ihm zufrieden ist, mit sich zufrieden." Denn so gerät nach einer kurzen Phase der Verstörung alles wieder ins innere Gleichgewicht. Hauptsache, einer lobt … wer, ist eigentlich ganz egal.
Dass es auch so etwas wie Haltung gibt, Grundsätze gar, innere Prinzipien, die, wenn sie etwas taugen, ohnehin nie so simpel sein können, dass man sie in einer Krise Hals über Kopf revidieren müsste – ja das gehört wohl ins revisionistische Geschichtsbuch hinein, Stichwort Preußen. Ein Mensch von Ehre hätte es vor 150 Jahren kaum über sich gebracht, seinen Prinzipien untreu zu werden, nur weil die Mehrheit gerade mal einen öffentlichen Stimmungswechsel propagiert. Wenn überhaupt, überprüft man Prinzipien gegen den mainstream, nämlich zu einem Zeitpunkt, an dem es einem selbst wehtut, und nicht, wenn alle einen fröhlich dazu ermuntern.
Das Mehrheitsprinzip, angewandt auf grundsätzliche Haltungen, produziert bloß ein Heer unsicherer Kantonisten, die beim nächsten Umschwung flugs wieder die Seiten wechseln – mit denen sollte sich niemand schmücken, denn mit ihnen kann man keinen Staat machen. Jedenfalls keinen attraktiven. Das wusste schon Goethe, als er in "Wilhelm Meisters Wanderjahren" von der Kanzel donnerte: "Nichts ist widerwärtiger als die Majorität, denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will."
Alles nur reaktionäres Zeug eines unbelehrbaren Traditionalisten? Aber ja doch, wir kennen – kollektiv abgesegnet – die Wahrheit ganz genau! Bis zum nächsten Umschwung.
Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein jüngstes Buch "Die letzte Wahl - Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.
Mal abgesehen davon, dass Journalisten heute eher sich selbst als der Politik dienen wollen, zeigt der mediale Krisen-Overkill der letzten Wochen, dass Kierkegaard in einem Recht hatte: Journalismus ist zuviel für einen Menschen, eine charakterliche Herausforderung, an der er nur zerbrechen kann. Waren die Verhältnisse eben nicht noch so, dass man nur in Lohn und Brot stand – na, sagen wir besser: in Bonus und Kaviar –, wenn man vorbehaltlos die freien Märkte besang?
Und muss man nicht jetzt das Loblied auf den starken, eingreifenden, regulierenden Staat intonieren, sich selbst also diametral widersprechen? Das hält der stärkste Charakter nicht aus, weswegen man ihn im Korps der politischen Publizistik auch selten findet. Wohin man sein Ohr auch wendet, überall zirpen die Renegaten ihr flugs von Dur auf Moll umgestimmtes Lied: "Heil dir im Spenderkranz, du gütiger, weiser, väterlicher Staat!"
Dass sich strukturell wenig bis gar nichts verändert, wenn politische Funktionäre das Geschäft von Wirtschaftsfunktionären übernehmen, und es Myriaden von Beispielen gibt, in denen Funktionäre gleich welcher Herkunft nur ans eigene Wohlergehen denken, bleibt außen vor. Aber ehrlich gesagt kann einen dieser flache Perspektivwechsel ohne Rücksicht auf größere Zusammenhänge auch nicht wundern, sind die allermeisten publizistischen Meinungsmacher ebenfalls nur Medienfunktionäre im Angestelltenverhältnis. Das Renegatentum – also die schnelle Anpassung an veränderte Machtkonstellationen – ist ihnen gewissermaßen eingeboren, und in Zeiten der Krise tritt das eben unverhohlen zutage.
Man könnte sogar entschuldigend sagen, dass bei gewissen Berufsgruppen opportunistische Blindheit zwingend zur psychischen Grundausstattung gehört, sonst wäre der Beruf kaum auszuhalten. So viele Umschwünge im Laufe eines Lebens, da bleibt nur im Geschäft, wer sich als biegsam erweist und dabei keinen Schmerz empfindet.
Im Juni 1945 etwa, einer für Renegaten nicht eben einfachen Zeit, beobachtete Erich Kästner grimmig amüsiert, wie sich Mitläufer des alten Regimes ins neue System hinüber retteten. Präzise lautete seine daraus gewonnene Definition des Opportunisten: "Er ist, weil man mit ihm zufrieden ist, mit sich zufrieden." Denn so gerät nach einer kurzen Phase der Verstörung alles wieder ins innere Gleichgewicht. Hauptsache, einer lobt … wer, ist eigentlich ganz egal.
Dass es auch so etwas wie Haltung gibt, Grundsätze gar, innere Prinzipien, die, wenn sie etwas taugen, ohnehin nie so simpel sein können, dass man sie in einer Krise Hals über Kopf revidieren müsste – ja das gehört wohl ins revisionistische Geschichtsbuch hinein, Stichwort Preußen. Ein Mensch von Ehre hätte es vor 150 Jahren kaum über sich gebracht, seinen Prinzipien untreu zu werden, nur weil die Mehrheit gerade mal einen öffentlichen Stimmungswechsel propagiert. Wenn überhaupt, überprüft man Prinzipien gegen den mainstream, nämlich zu einem Zeitpunkt, an dem es einem selbst wehtut, und nicht, wenn alle einen fröhlich dazu ermuntern.
Das Mehrheitsprinzip, angewandt auf grundsätzliche Haltungen, produziert bloß ein Heer unsicherer Kantonisten, die beim nächsten Umschwung flugs wieder die Seiten wechseln – mit denen sollte sich niemand schmücken, denn mit ihnen kann man keinen Staat machen. Jedenfalls keinen attraktiven. Das wusste schon Goethe, als er in "Wilhelm Meisters Wanderjahren" von der Kanzel donnerte: "Nichts ist widerwärtiger als die Majorität, denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will."
Alles nur reaktionäres Zeug eines unbelehrbaren Traditionalisten? Aber ja doch, wir kennen – kollektiv abgesegnet – die Wahrheit ganz genau! Bis zum nächsten Umschwung.
Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein jüngstes Buch "Die letzte Wahl - Therapien für die leidende Demokratie" erschien im August 2007 in der Anderen Bibliothek. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.

Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin© Katharina Meinel