Die Straße als Bühne

Von Jochen Stöckmann |
Helen Levitt, geboren 1913, begann Ende der 1930er Jahre die New Yorker Straßenzüge der Lower East Side und der Bronx, von Harlem und Brooklyn nach Motiven zu durchstreifen. Sie fotografierte Menschen auf der Straße, Kinder beim Spiel, Hausbewohner auf den Treppen sitzend. Herausgekommen ist so ein schillerndes Porträt der Metropolenbewohner. Im Sprengel Museum Hannover sind nun über 300 Werke aus dieser Zeit zu sehen.
Matronen beugen sich neugierig aus dem Fenster, ein alter Herr mit Strohhut sitzt auf dem Telefonkasten und lässt die Beine herabbaumeln, die blonde Bordsteinschwalbe stellt herausfordernd ihr kurzes Pelzjäckchen zur Schau. Dazwischen immer wieder Kinder: kleine Könige, die sich beim Versteckspiel, mit selbstgebastelten Pappmasken oder zu viert nebeneinander her tollend auf Anhieb die Straße erobern. Die Beschreibung könnte auf jede beliebige Großstadt passen, aber wer vor diesen Schwarzweißbildern steht, ahnt: Das ist New York. Und die Fotografin heißt Helen Levitt:

Dominik von König: „Hier ist quirliges Leben, keine computergenerierten, eingefrorenen Oberflächen. Spontane Bilder, mit der Leica aus der Hand gemacht. Man riecht sozusagen dieses Straßenleben an der Lower East Side. So, wie es in der Musik das absolute Gehör gibt, habe ich bei ihr das Gefühl, es ist der absolute Blick.“

So das Resümee von Dominik von König, Generalsekretär der Stiftung Niedersachsen, die der fast 85-jährigen Künstlerin den „spectrum“-Fotopreis zuerkannt hat. Inka Schube, Kuratorin im Sprengel Museum Hannover, hat Helen Levitt mehrmals in New York besucht, insgesamt 300 Bilder für eine überraschend facettenreiche Ausstellung ausgewählt. Rhythmisch gereiht oder zu motivischen Blöcken gruppiert, illustrieren die mit 28 mal 36 Zentimeter relativ kleinformatigen Abzüge wichtige Abschnitte einer künstlerisch aufregenden Biographie. Auffällig zwei Großformate gleich zu Beginn:

Inka Schube: „Helen Levitt hat sich diese Kamera von Walker Evans ausgeborgt. In ihren Anfängen ihrer Fotografie, als sie noch gesucht hat und geschaut hat, was kann ich machen, was ist für mich interessant. Und ich denke, das ist wirklich ein Glück, dass sie das nicht weiter verfolgt hat. Aber sie hat aus diesem Straßenleben heraus ihre Bilder finden wollen. Und das ging natürlich nur mit der kleinen Leica und häufig mit einem Winkelsucher.“

Walker Evans, der berühmte Pionier eines dokumentaristischen Stils, war einer der großen Anreger Helen Levitts. Auch Henri Cartier-Bresson, der Ahnherr moderner Reportagefotografie, gehörte dazu. Direkt gefolgt ist die Frau mit der Leica niemandem. Von Evans beherzigte sie allerdings die Devise „Unsereins macht sich unersetzlich durch Anonymität“. Daher also der Winkelsucher – und die sympathische Angewohnheit, selber nicht ins Rampenlicht zu treten. Und Cartier-Bresson schärfte der jungen Fotografin schon Ende der Dreißiger ein, sich nicht von irgendwelchen Stilrichtungen vereinnahmen zu lassen.

Als Reporterin mochte sich diese passionierte Großstadtpflanze ohnehin nie begreifen. Sie wollte nicht der neuesten Nachricht hinterherjagen, ging lieber auf Reisen in die Nachbarschaft, wo noch wirkliche Entdeckungen möglich waren. Zum Beispiel Kinder, die sich jeden Tag aufs Neue als Skulpturen ihrer selbst in Szene setzen: am Bordstein kauernd, lässig über ein Treppengeländer gefläzt, konzentriert auf das mit Kreide markierte Kästchenspiel oder – ganz selten – erstarrt im Sonntagsstaat:

Inka Schube: „In dieser Ruhe liegt aber, und das ist das Besondere an diesen Fotografien, eine große, diffizile Spannung. Bei Helen Levitt sind diese Bewegungsabläufe, ich will nicht sagen: verknotet, aber es gibt immer sehr gegenläufige Bewegungsmomente. Dadurch entsteht eben solch eine große Spannung über das Blatt. Diese Bilder haben, auch wenn sie ruhig sind, eine sehr große, sehr diffizile Dynamik. Und wenn man da genauer hinschaut, da merkt man plötzlich so ein ganz feines Fingerspiel, ein Rhythmik der Finger, der Gliedmaßen, der Füße.“

So gerät die hannoversche Ausstellung, die Wiederentdeckung einer großen Fotografin auch zum Laufsteg für anonyme Prominenz, für die Berühmtheiten von nebenan:

„Klar ist New York natürlich auch in dieser Zeit schon eine Art Theater gewesen. Wenn man auf die Straße ging, hat man sich natürlich für die Straße – und sei es nur, dass man seine Kittelschürze zugeknöpft hat – hübscher gemacht und hat darauf geachtet, wie man auf der Straße erscheint. Bei den jungen Frauen kann man das deutlich sehen.“

Auch auf den seltenen Farbfotos wird dieser leichte Hang zum Extrovertierten deutlich: ein giftgrüner Straßenkreuzer, die heruntergekommene Lady im allzu rosafarbenen Morgenrock mit einem Hut, der gar zu blau wirkt. Aber selbst bei diesem übertriebenen Modebewusstsein ihrer Zeitgenossen sind die Fotos von Helen Levitt kaum einer bestimmten Epoche zuzuordnen. Auch wenn deutlich wird, dass sich hier eine untergegangene Welt, eine verlorene Lebensart spiegelt:

„Es wird ja immer wieder gesagt, dass die Fotografie von Helen Levitt heute in New York so nicht mehr möglich wäre. Aber andererseits ist sie vielleicht nur einfach abgewandert an die Ränder der Stadt. Also in Manhattan sieht man so etwas, was sie früher fotografiert hat, heute nicht mehr. Aber in andren Bezirken der Stadt ist das sicherlich noch möglich. Das Straßenleben hat sich halt sehr verändert. Das sieht man auch auf den Farbaufnahmen, plötzlich spielen die Autos eine viel größere Rolle als in den vierziger Jahren. Die sind sehr dominant und bestimmen das Straßenbild, die Kinder können einfach so nicht mehr auf der Straße spielen, die haben diese Bewegungsräume nicht mehr.“

Bei Dreharbeiten zu dem gemeinsamen Film „In the Street“ hatte Levitt zusammen mit dem Schriftsteller James Agee erkannt, dass im New Yorker Straßenleben bereits eine eigene Ästhetik verborgen lag, dass diese Realität keiner Übersteigerung durch auffällige Einstellungen oder markante Formalismen mehr bedurfte. Eben diese geniale Simplizität, die zurückhaltende Geradlinigkeit macht das Werk dieser Fotografin zum fortdauernden Erlebnis, lässt immer wieder überraschende Einsichten aufblitzen. Das liegt wohl auch daran, dass Helen Levitt dem Trend zum großen, möglichst wandfüllenden Format nie gefolgt ist – und damit der Kuratorin Inka Schube ganz neue Perspektiven bot:

„Es hat eine wirklich große Freude gemacht zu merken, dass man mit diesen kleinen Formaten wunderbare, fast körperliche Rhythmen bauen kann beim Hängen. Man kann diesen Blick des Betrachters aufnehmen. Man steht nicht vor diesem Riesenformat, wo man schauen muss: wo gucke ich jetzt hin? Das hier ist wirklich das Abschreiten einer Bilderwelt.“