"Die Stoffe finden mich"

Moderation: Jürgen König · 20.11.2007
Die Jugendbuchautorin Cornelia Funke gelangt oft überraschend an die Themen ihrer Bücher. Bei Besuchen an bestimmten Orten wie alten Kathedralen würden ihr plötzlich Stoffe und Ideen einfallen, sagte die Autorin im Deutschlandradio Kultur. Wenn sie dann beginne, über diese Orte zu recherchieren, gebe es oft Parallelen zwischen der Wirklichkeit und ihren Ideen. Cornelia Funke ist durch ihre Trilogie "Tintenherz", "Tintenblut" und "Tintentod" bekannt geworden.
Jürgen König: In Hamburg ging es am Sonntag los, gestern las sie in Berlin, morgen in München, übermorgen in Köln, am Freitag in Hannover: Cornelia Funke. Sie liest aus ihrem neuen Buch "Tintentod", das ist der dritte und letzte Band der Geschichte um den Buchbinder Mo und seine Tochter Meggie, die die Gabe besitzen, Menschen und, sagen wir, Wesen verschiedenster Art aus den Büchern heraus in die reale Welt hineinzulesen. Und umgekehrt den Menschen die fantastische Bücher- und Buchstabenwelt der bunten Feen, der Glasmännchen, der Feuerzauberer und Einhörner, diese Welt ihnen sichtbar zu machen. Eine Welt allerdings, die immer wieder durcheinander gerät, weil verschiedene Dichter und auch Vorleser meinen, eingreifen zu müssen und den Gang der Handlung zu verändern. Dies als kurze Nachhilfe für alle Noch-Nichtkenner der "Tintenwelt".

Gestern Nachmittag habe ich vor ihrer Lesung im Berliner Theater des Westens mit Cornelia Funke gesprochen und sie als erstes gefragt, wie sie das denn erlebe: Ihre Lesereise durch Deutschland war kaum angekündigt, da war sie auch schon ausverkauft. Wie ein Popstar wird sie verehrt.

Cornelia Funke: Ja, manchmal kommt mir das wirklich selber ein bisschen so vor, das ist schon sehr seltsam, wenn einem das als Schriftstellerin so geht. Aber da das ja Kinder sind, ist das ja ein sehr angenehmes Publikum, das heißt, Sie kriegen auch keinen Grusel vor ihren eigenen Fans.

König: "Tintentod" hat jetzt eine Auflage von 700.000. Hat das auch was Beängstigendes?

Funke: Nein, das sehe ich eigentlich nicht so. Was soll denn daran beängstigend sein?

König: Na, einfach die schiere Größe, dass das einem über den Kopf wächst, ich meine, Sie haben, glaube ich, in 20 Jahren 40 Bücher geschrieben, es sind ohnehin Riesenauflagen in, wie viel, 28 Sprachen übersetzt? Also, das glaube ich schon, dass da eine so vergleichsweise geringe Auflage wie 700.000 nicht schreckt, aber dennoch, was ich damit meine und worauf ich hinaus will, ist: Kann es sein, dass einem irgendwie dieser Kosmos Funke allmählich irgendwann einmal auch ein bisschen gruselig wird?

Funke: Nein, also, ich muss wirklich sagen, mit Gruseln oder Angst ist da überhaupt nichts. Ich bin nur immer sehr ... Mich macht das eher sehr demütig, ich kann immer noch gar nicht glauben, dass das passiert. Ich kann auch immer noch nicht glauben, dass die Kinder das so unglaublich glücklich macht und viele Erwachsene auch, das heißt, man ist eigentlich selber ganz verzaubert davon und man denkt, das kann ja nicht ewig so weitergehen, irgendwann muss das doch mal aufhören! Nur: Noch geht's weiter.

König: Über Ihre Bücher heißt es gerne, sie seien düster, das liest man immer mal wieder. Ich weiß, dass sie auch vieles andere sind, aber düster, ich finde das teilweise auch. "Tintentod" habe ich noch nicht gelesen, die beiden Vorgänger ja, "Tintentod" konnte ich noch nicht lesen, weil unsere Tochter es gerade liest. Im "Tintentod" ist sehr viel von Trauer, Tod, auch von Sehnsucht die Rede, Ängste spielen eine große Rolle, ich habe schon gehört, Darius, der Vorleser, der nichts richtig aus diesen Büchern herauslesen kann, oder Rußvogel, der Feuerspucker, der eigentlich Angst vor dem Feuer hat - was sagen Ihnen Kinder zu diesen Themen, wenn Sie zum Beispiel nach Lesungen mit denen sprechen? Oder was für Post erhalten Sie? Also, ich will darauf hinaus: Diese Themen Trauer, Tod, Sehnsucht, wie gehen Kinder damit um?

Funke: Ja, das ist ganz erstaunlich, dass man von den Kindern nie hört, dass die Bücher düster sind, das ist immer nur was, was man von den Erwachsenen hört. Für die Kinder ist es, glaube ich, wirklich so, dass die noch sehr realistisch sind, was die Mischung aus Licht und Schatten im Leben betrifft und dass natürlich auch wir Erwachsenen oft aufgrund dessen, was wir erlebt haben, in bestimmte Düsternisse viel mehr hineinlegen als Kinder, für die das vielleicht zum ersten Mal auf der Seite passiert oder aber die wirklich immer noch sehr gut die Balance halten zwischen dem, was eben hell ist und dem, was dunkel ist, und dass das eben beides zusammengehört.

König: Tomi Ungerer hat gerade gesagt, man müsse den Kindern ab und zu mal richtig Angst machen, damit sie gewappnet seien fürs Leben. Wäre das auch so in Ihrem Sinne?

Funke: Ich glaube, dass die Kinder das sogar richtig suchen. Ich denke mir, dass die sehr enttäuscht sind, wenn sie das nicht finden, weil ich das Gefühl habe, dass Kindern oft wesentlich bewusster noch ist, dass das Buch ja eine wunderbare Möglichkeit ist, das vorzubereiten oder schon mal was zu üben, was sowieso irgendwann kommt.

König: Über den Tod zu sprechen zum Beispiel.

Funke: Zum Beispiel.

König: Noch mal konkret, was für Gespräche sind das nach solchen Lesungen, oder auch in Briefen zum Beispiel?

Funke: Das ist wirklich eine ganz, ganz weites ... Es ist übrigens auch sehr unterschiedlich, in Deutschland zum Beispiel ist es wirklich sehr viel, dass sie mir erzählen, was sie am liebsten mögen, das eigentlich immer. Was sie alles lieben, woran sie denken, dass sie die Bücher streicheln, wenn sie traurig sind und plötzlich wieder glücklich sind, was sie am meisten beeindruckt hat, welche Figur sie am meisten lieben, das oft. Und oft zeichnen sie dann da was zu, während die amerikanischen Kinder zum Beispiel, weil sie in den Schulen sehr viele literarische Themen haben, ganz oft nach der Technik fragen, also, wie schreibst du, wie lange bereitest du das vor?

König: Nach der Technik des Schreibens?

Funke: Ja. Das ist immer ganz interessant zu sehen, dass es den Unterschied gibt. Und das sagt meine Schwester - die im Moment ja meine Website macht und auch meine ganze Kinderpost - auch, dass die Unterschiede doch ziemlich deutlich sind.

König: Wie viel Post bekommen Sie?

Funke: Da müssten Sie meine Schwester fragen, ich habe keine Ahnung mehr. Ich glaube immer noch, dass es nicht dramatisch viel ist, ich habe jetzt jemanden, der in Amerika die amerikanische und die englische Post beantwortet und ich habe jemanden, habe eben meine Schwester in Deutschland, die die Website macht und die deutsche Post beantwortet, und noch ist das gut zu schaffen. Es sind noch nicht säckeweise, ich bin ja auch kein Filmstar.

König: Im "Tintentod" gibt es den Dichter Fenoglio, aus dessen Abenteuerbuch der Buchbinder Mo vorliest. Fenoglio ist immer ganz erschöpft, wenn die Fäden seiner Handlung sich mal wieder ganz unvorstellbar verheddern. "Diese Geschichte ist ein Labyrinth", schimpft er dann vor sich hin. Kennen Sie beim Schreiben solche Phasen auch, des Kämpfens mit sich selbst?

Funke: Das kenne ich eigentlich so natürlich nicht, weil bei mir das ja nicht gleich wirklich wird. Der arme Fenoglio kämpft natürlich damit, dass er weiß, oh Gott, wenn ich das jetzt nicht richtig hinkriege, dann wird das ja gleich Wirklichkeit. Gott sei Dank habe ich das Problem ja nicht, das heißt, wenn sich bei mir die Fäden so richtig verwirren, genieße ich eigentlich die Zeit, mich hinzusetzen und zu sagen: Hmmm, was könnte man denn da jetzt machen? Da gibt es ja so viele Möglichkeiten! Und ich bin eher immer dann… finde das die interessantesten Zeiten beim Schreiben, wenn man nicht genau weiß, wo es jetzt als nächstes hingeht, und wenn man sich noch überlegen muss, welchen Pfaden man denn jetzt folgt.

König: Wenn Fenoglio sich so verheddert, dann kommt der Gegenspieler Orpheus ins Spiel, der ist pragmatisch, der zerrupft dem armen Fenoglio seine ganze Geschichte und setzt sich das alles neu zusammen, wie er es gerne hätte und wie man das vielleicht auch besser vermarkten könnte und so weiter. Es hat im deutschen Feuilleton natürlich gleich eine kleine Debatte darüber gegeben, ob das nun auch die Auseinandersetzung mit der Vermarktbarkeit von Literatur sei. In faz.net kann man da wunderbare Dinge drüber nachlesen. Ich wäre von allein, ehrlich gesagt, nie auf eine solche Frage gekommen.

Funke: Ich bin da auch nie drauf gekommen.

König: Dann hat sie sich vielleicht auch schon beantwortet, ob Sie auch über die Vermarktbarkeit von Büchern sich in diesem Figurenstreit Fenoglio/Orpheus Gedanken gemacht haben. Das ist nicht so?

Funke: Das Erstaunliche ist: Natürlich funktioniert die Interpretation, das heißt, wenn mich da jetzt einer drauf stößt, denke ich "guck mal, Cornelia, da haste ja wieder was gemacht, was du nicht gemerkt hast", was ich sehr oft mache, und, ich glaube, was auch das Geheimnis vom Schreiben ist, dass man sehr vieles hinterm Vorhang macht und dann plötzlich stellen andere fest, was man denn da eigentlich als Bild benutzt hat. Ich glaube, wenn man schon von vornherein weiß, das will man da drin verpacken, dann funktioniert es nicht, dann wird es einfach zu offensichtlich.

Ich sehe den Orpheus aber eigentlich immer eher als einen sehr irregeleiteten, liebenden Leser, noch viel mehr als Schreiberling, das heißt, das fing ja bei ihm alles damit an, dass er dieses Buch liebt und dass er vor allem die Figur vom Staubfänger liebt. Und eigentlich ist er für mich immer eher so ein abgewiesener Liebhaber, der nun auf massivste Weise versucht, das alles unter Kontrolle zu bekommen und dieser Liebe Ausdruck zu verleihen, also, das war bei mir der erste Ansatz für die Figur.

König: Damit rückt er auch ein bisschen mehr in die Nähe des tragischen Sängers Orpheus, der ja auch eine sehr positive Figur eigentlich ist, indem er seiner Eurydike hinterher eilt.

Funke: Richtig, wobei ich natürlich ihn auch Orpheus, den Namen, habe wählen lassen, weil er halt sehr pompös über sich selber denkt und eine seltsame Mischung aus Selbstgerechtigkeit und sehr großer Unsicherheit ist.

König: Es heißt, Sie würden im Moment an vier Büchern gleichzeitig schreiben, stimmt das?

Funke: Ja, also, schreiben tue ich an zweien, und weitere zwei sind in Vorbereitung, das heißt, da arbeite ich ab und zu am Plot und lese auch mal was dazu. Die sind also noch so auf dem ... Ich mache das immer so, dass ich kleine Karten zu den Plots sammle und die Struktur erarbeite.

König: Das hätte ich gerne alles mal ein bisschen genauer gewusst. Wie passiert das - kommen Sie zu den neuen Stoffen, oder finden die Stoffe Sie?

Funke: Ja, das ist schon so, dass die Stoffe mich finden. Das kann manchmal dadurch passieren, dass ich irgendwo hinfahre und plötzlich was sehe, das kann sein, dass ich plötzlich aus heiterem Himmel beim Spazierengehen eine Idee habe und dann plötzlich merke, die reizt mich genug, um da jetzt ein Jahr mit zu verbringen.

König: Können Sie ein Beispiel geben?

Funke: Also, bei der Geschichte, die ich gerade zu Ende geschrieben habe war es so, dass ich vor vier Jahren in der Kathedrale von Salisbury war wie viele Touristen, um mir die anzusehen, und als ich dort war, fand ich diese mittelalterlichen Grabmäler wunderschön, die Alabastersärge von zwei Rittern, und habe mir gedacht, da könnte man doch eine fabelhafte Gespenstergeschichte draus machen, wenn die zum Leben erweckt werden. Also hat der Ort mir im Grunde die Geschichte geliefert.

Und dann wird es immer ganz seltsam bei mir, dann fange ich an zu recherchieren, und dann fängt sich immer die Wirklichkeit an zu verknüpfen mit der Idee, das heißt, ich stellte dann plötzlich fest, als ich darüber recherchierte, dass die Frau des Ritters so heißt wie die Tochter eines meiner besten Freunde, und dass ich doch die Tochter dann vorkommen lassen könnte in der Geschichte. Das heißt, es kommt dann Realität mit Vorstellung zusammen, ...

König: So verknüpft sich dann magische und reale Welt.

Funke: ... verknüpft sich aufs Seltsamste, als wenn man so eine Tür aufgemacht hat und da wartet dann schon einiges dahinter, und das geht mir eigentlich mit den meisten Geschichten so. Es sind sehr oft Orte, wie auch Venedig, das mir die Idee von Herr der Diebe vermittelte, oder "Tintenherz" ist ohne meine drei Monate in Ligurien nicht vorstellbar, das heißt, es sind sehr, sehr oft Orte, die mir so eine Idee geben. Und was sich dann daraus entwickelt, kommt dann fast von selbst zusammen.

König: Wie schaffen Sie das, dass Sie - erlauben Sie mir diese Bemerkung - so normal geblieben sind bei dem ganzen großen Ruhm, den Sie geerntet haben?

Funke: Ich weiß das auch nicht, ich glaube, das liegt einfach daran, ich denke, ich bin in der Hinsicht ein bisschen wie mein Vater vor allem geraten, ich glaube, dem würde das genauso gehen. Ich denke auch einfach, dass man das leicht hat, so zu bleiben, wenn man mit Kindern arbeitet.

König: 2005 sind Sie in die USA gezogen und damals, habe ich jetzt nachgelesen, haben Sie angedeutet sozusagen, Sie wollten näher an Hollywood heran um ein bisschen gucken zu können, was man dort mit Ihren Büchern als Film machen wird.

Funke: Das ist allerdings eine Journalistenerfindung.

König: Das habe ich mir schon fast gedacht, weil ich mir das auch nicht vorstellen ... Es passt so, wie ich, ich kenne Sie nicht oder kannte Sie nicht vorher, ...

Funke: Gute Einschätzung. Nein. Es hat sich unglaublich gehalten als Gerücht, aber es war wirklich überhaupt nicht der Grund. Und es ist auch wirklich so, wenn man Filme macht, also das "Tintenherz" wurde jetzt in London und in Italien verfilmt, da wäre es viel praktischer gewesen, in Europa zu wohnen. Und auch jetzt sind ja etliche Filmprojekte hier in Deutschland passiert, also, das heißt, ich merke zwar, je länger ich dort lebe, desto mehr Filmfreunde hat man, desto leichter ist es, solche Kontakte zu fügen und plötzlich kommt man auf Projekte, auf die man vielleicht nicht gekommen wäre, wenn man in Los Angeles wohnt.

Aber mein Grund, in Los Angeles zu wohnen ist, dass ich da einige sehr enge Freunde hatte, dass ich die Stadt einfach liebe, dass ich die Landschaft liebe und das schöne Wetter, und dass wir alle gerne mal - die ganze Familie - an einen anderen Ort wollten.

König: Und Sie bleiben auch erst mal da?

Funke: Ganz bestimmt.