Die Stimme des Ostens

Von Günther Lachmann |
Es ist still geworden um Ostdeutschland. Der Aufbau scheint abgeschlossen. Allerorten sind die Innenstädte liebevoll saniert, die Straßen erneuert, die Strukturen von Wirtschaft und Verwaltung entsprechen denen in den westdeutschen Bundesländern.
Vieles sei dort sogar besser, klagen die Vertreter westdeutscher Kommunen, die erst beim Anblick schmucker Altbauviertel erkannten, wie sehr sich ihre Vorgänger an den eigenen Innenstädten versündigt haben.

Sie lamentieren über die neuen ostdeutschen Verhältnisse, beklagen die eigenen leeren Stadtsäckel und möchten den Solidarbeitrag lieber heute als morgen einstellen. Doch so laut die Kommunal- und Landespolitiker in Westdeutschland sind, so leise sind die im Osten geworden.

Das war einmal anders. In den Jahren nach der Deutschen Einheit sorgten Politiker wie Manfred Stolpe, Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel dafür, dass der Aufbau Ost in aller Munde und vor allem an jedem Kabinettstisch bundesweit ein Thema war. Sie mischten sich in innerparteiliche Debatten ein, führten Standortdiskussionen und stritten über Lohnnebenkosten. Durch sie war der Osten auch in der Politik medial immer präsent.

Heute hingegen werden die ostdeutschen Argumente in einer Auseinandersetzung etwa über die Sozialsysteme, angestoßen durch die Hartz-IV-Polemik von FDP-Chef Guido Westerwelle, entweder überhört oder sie werden gar nicht erst ausgesprochen.

Dabei leben auch oder gerade in den ostdeutschen Bundesländern viele Menschen von Hartz IV. Mit Ausnahme von Sachsen und Thüringen ist die Arbeitslosigkeit in allen Ländern nach wie vor hoch. Besonders in den von der Entvölkerung am stärksten betroffenen Regionen sind Arbeitslosenquoten um die 20 Prozent die Regel. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten hätten also allen Grund gehabt, sich lautstark in diese Diskussion einzubringen.

Doch sie tun es nicht. Sie überlassen auch die Streitigkeiten über Vätermonate, über die Kopfpauschale oder die Atomenergie, sprich die ganze Breite bundespolitischer Auseinandersetzungen, weitgehend ihren westdeutschen Kollegen. Damit berauben sie sich selbst ihrer Möglichkeiten und riskieren zugleich, dass die Interessen der Ostdeutschen in all diesen Fragen nicht angemessen vertreten werden. Und so fragt man sich: Wer ist, wer kann derzeit eigentlich die Stimme Ostdeutschlands sein?

In der Nachfolge von Stolpe, Biedenkopf und Vogel war es am ehesten noch Dieter Althaus. Der frühere Ministerpräsident von Thüringen und CDU-Politiker hielt nicht nur engen Kontakt zu Bundeskanzlerin Angela Merkel, er wollte auch die Richtung der Berliner Politik mitbestimmen. In Erinnerung sind etwa seine Forderungen nach einem Bürgergeld in Höhe von 600 Euro für alle oder nach der Einführung einer 42-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst.

Ähnlich mutig agieren heute noch der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, und die Althaus-Nachfolgerin in Thüringen, Christine Lieberknecht. Im Bundestagswahlkampf wagte es Böhmer gar, mit Blick auf die Länder- und Kommunalfinanzen die Pläne der FDP nach weitreichenden Steuersenkungen zu kritisieren. Die CDU-Politikerin Lieberknecht legte sich quer zur Linie ihrer Partei, als sie jüngst auf einen raschen Atomausstieg drängte. Wirklich wahrgenommen aber wurde sie in der breiten Öffentlichkeit allerdings wohl nur, als sie sich erfolgreich für den Opel-Standort Eisenach einsetzte. Seither ist es wieder still um die Regierungschefin geworden.

Von Matthias Platzeck, dem einstigen Hoffnungsträger der SPD, hört man kaum noch etwas. Das Gleiche gilt für den sächsischen Regierungschef Stanislaw Tillich, wenn es sich nicht gerade um Polit-Sponsoring handelt. Und wer kennt schon den amtierenden Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern? Er heißt Erwin Sellering und ist Mitglied der SPD.

Den charismatischen Politiker aus Ostdeutschland, dessen Machtinstinkt gefürchtet und dessen Einfluss gesucht wird, also einen, der Kraft seines Amtes und seiner innerparteilichen Autorität durchsetzungsstark die Interessen seiner Region vertreten könnte, den gibt es derzeit nicht. Darum müssen die Böhmers und Lieberknechts dringend lauter werden.

Günther Lachmann, Jahrgang 1961, ist Journalist und Buchautor. Er verantwortet die politische Berichterstattung auf Welt Online. Zuvor war er viele Jahre politischer Korrespondent der "Welt am Sonntag" und der Tageszeitung "Die Welt". Im Piper-Verlag erschienen von ihm die Bücher "Tödliche Toleranz – Die Muslime und unsere offene Gesellschaft" sowie "Von Not nach Elend – Eine Reise durch deutsche Landschaften und Geisterstädte von morgen".
Günther Lachmann
Günther Lachmann© Marion Hunger