Die Stille nach dem Ruhm

Von Julio Segador |
Am 13. Oktober 2010, vor einem Jahr, blickte die ganze Welt voller Spannung in die chilenische Atacamawüste und hielt den Atem an – bis 33 Bergarbeiter gerettet wurden. Viele hat das Leben nach dem Schacht mehr überfordert als das Leben darin.
Ein staubiger Bauplatz an der Hauptstraße in Copiapó. Mehrere Arbeiter binden schwere Stahlträger für ein Betonfundament zusammen.

Neben der Baustelle stehen einige Männer in Anzügen, die die Bauarbeiten skeptisch beobachten, immer wieder Anweisungen geben. Einer von ihnen ist Maglio Cicardini, der Bürgermeister der Wüstenstadt.

Ciardini: „Diese zwölf Meter hohe Skulptur ist aus China gespendet worden. Als Hommage an das Heldenepos und die Odyssee der 33 Bergarbeiter aus der Atacamawüste vor genau einem Jahr. Wir wollen dieses Monument am 13. Oktober einweihen, also genau ein Jahr nach der erfolgreichen Rettung der Bergarbeiter aus der Mine San José.“

Es wird eng, Tag und Nacht müssen die Arbeiter nun schuften, damit das Monument rechtzeitig aufgestellt wird. Die Skulptur stellt eine Frauengestalt mit geschwungenen, offenen Armen dar, ein Symbol der Freiheitsliebe und des Überlebenswillens, so heißt es. Spät, sehr spät erinnert man sich in Copiapó und in ganz Chile an die 33 Mineros, diese Bergarbeiter, die 69 Tage und Nächte unter der Erde eingeschlossen waren, nachdem die marode Mine San Jose – etwa 70 Kilometer von Copiapó entfernt – eingestürzt war.

Jorge Galleguillos ist einer dieser 33 Bergarbeiter, die an diesem 13. Oktober vor einem Jahr aus der Dunkelheit in fast 700 Metern Tiefe gerettet wurden. Als Elfter der 33 brachte ihn die Rettungskapsel Phönix an die Oberfläche. Der bärtige Mann hat seit jenem Tag deutlich zugenommen, er sitzt ein wenig verloren im Zentrum von Copiapó. Die Passanten gehen an ihm vorbei. Keiner grüßt ihn. Noch vor neun Monaten war das anders. Die Leute wollten Jorge Galleguillos berühren, er wurde weltweit herumgereicht.

Galleguillos: „Wir hatten schon einen ziemlich engen Terminplan. Unsere erste Reise führte uns nach Los Angeles in die Vereinigten Staaten, dann fuhren wir zu fünft nach China, danach nach England, es folgten Israel und Disney World und so ging es weiter. Im Juni war dann die letzte Reise, wir fuhren nach Griechenland. Seither gab es keine Einladungen mehr. Aber ich bin allen sehr dankbar, an allen Orten, wo wir waren.“

In den Monaten nach der Rettung wurden die 33 zu Weltstars. Fernsehshows in aller Welt rissen sich um sie, bezahlten hohe Gagen für ihre Auftritte. Sie waren beim Papst, beim US-Präsidenten, im Kreml und Edison Peña, der unmittelbar nach Jorge Galleguillos als 12. gerettet wurde, er durfte in der Late Show bei US-Talkmaster David Letterman sogar sein Idol Elvis Presley imitieren.

Szenenwechsel nach Santiago, in die chilenische Hauptstadt. Hektische Betriebsamkeit im Zentrum der Metropole, unweit des Regierungspalastes La Moneda, wo die 33 gleich mehrmals mit großem Brimborium empfangen wurden. Vom Ruhm der nationalen Helden ist hier wenig zu verspüren. Größtenteils Skepsis schlägt den geretteten Bergarbeitern inzwischen entgegen.
Umfrage Santiago:
„Für mich war es eine Show, ja eine Show, etwas Inszeniertes. Es ist absurd. Diese Regierung hat das alles inszeniert, um mehr Sympathie zu erhalten.

Ich denke, dass diese öffentliche Rettung der Mineros nur dazu da war, um Geld zu verdienen.

Also ich beurteile das eher skeptisch. Viele Reisen, viel Presse. Und diese Leute waren darauf nicht vorbereitet. Sie wurden ja von der Presse geradezu bombardiert und das hat alles dazu geführt.

Wenn sie jetzt glücklich sind und nun ihren Vorteil aus dem Ganzen ziehen, damit es ihnen wirtschaftlich besser geht, dann soll es so sein.

Ich sehe nur, dass es den meisten sehr schlecht geht. Emotional und psychisch. Sie haben ihre Situation mit Berühmtheit verwechselt. Die Medien sprangen auf und die Regierung machte eine Show aus der Rettungsaktion.“

In der Tat. Um viele der Mineros ist es ruhig geworden, und viele haben Probleme. Edison Peña, der Elvis-Imitator bei Letterman, wurde wegen Alkoholsucht vor wenigen Tagen in eine Klinik eingewiesen. Zwei der Bergleute verkaufen Gemüse hier in Copiapó, auf dem Markt. Einer der 33 war über Monate verschwunden, ist erst jetzt wieder aufgetaucht. Jimmy Sánchez, der Jüngste der 33, bekannte vor Wochen freimütig, unter Mine sei es im besser ergangen. Und auch Jorge Galleguillos, der bärtige Minero, der als Elfter gerettet wurde, hat Probleme, in ein halbwegs normales Leben zurückzufinden.

Galleguillos: „Gesundheitlich geht es mir nicht besonders, ich habe sehr starke Schlafstörungen, die mir ziemlich zusetzen. Beruflich mache ich nichts, ich lebe von den Ersparnissen. Ich weiß nicht, wie lange das reichen wird. Die Familie und andere Leute helfen mir, sodass ich bis jetzt nicht ganz abgestürzt bin.“

Zugesetzt hat den Mineros der rapide Popularitätsverlust im eigenen Land. Die 33 haben bei vielen Menschen in Chile den Ruf, Abzocker zu sein, sich die Taschen prall mit Pesos gefüllt zu haben. Jorge Galleguillos und Mario Gomez, der mir 64 Jahren Älteste der Gruppe, weisen dies zurück.

Galleguillos: „Das ist eine Lüge, ich jedenfalls habe kein Geld. Ich kann auch nur für mich reden, ich habe nichts, rein gar nichts. Und ob die anderen etwas bekommen haben, weiß ich nicht, ich habe keinen Peso verdient.“

Gomez: „Das ist völlig falsch. Ich bekomme derzeit Krankengeld, monatlich 650.000 Pesos.“

Das sind umgerechnet 1000 Euro Krankengeld, die Mario Gomez derzeit vom Staat bekommt. Vor wenigen Tagen ist ihm und weiteren 13 seiner Kollegen eine monatliche Rente von 250.000 Pesos, etwa 350 Euro zugesprochen worden. Noch nicht entschieden ist über eine Millionen-Klage, die 31 der Bergarbeiter eingereicht haben. Die staatliche Minenaufsicht soll die Unglücksmine San José nicht richtig geprüft haben.

Die Mine liegt etwa eine Stunde Autofahrt von Copiapó entfernt. Mitten in der Wüste. Es geht vorbei an endlosen Sanddünen, in der Ferne sieht man immer wieder Minenaufbauten. An der Mine San José erinnert nichts mehr an den Medienhype von vor einem Jahr.

Enrique sitzt mit seinem Schäferhund am Eingang zum Minengelände. Wir können zum Schacht gehen, meint er, und gleich dahinter sehe man auch die Stelle, an der die Rettungsbohrungen stattfanden.

An der Stelle, an der die Rettungsschächte in den Boden gebohrt wurden, bedecken inzwischen drei mächtige Betonfundamente die Bohrlöcher. Hier standen Staatspräsident Sebastián Piñera und seine Minister, als ein Minero nach dem anderen nach oben geholt wurde. Nichts, rein gar nichts erinnert mehr an den Menschenauflauf während der dramatischen Rettungsaktion.

Vereinzelt kommen Chilenen zu der Mine, so wie Rafael. Sie knipsen einige Bilder und schon geht es weiter, aus der Wüste zurück in die Stadt. Rafael hält einen Moment inne.

Rafael: „Beeindruckend, wirklich beeindruckend. Man denkt zurück, was sie unten wohl erlebt haben, die Bilder aus dem Stollen kommen zurück, und jetzt ist alles so ruhig hier.“

Das Klopfen von Jaimes Schraubenschlüssel durchbricht die Stille der Mine San Jose. Er ist gerade mit einem LKW vorgefahren und bringt altes, verrostetes Werkzeug, das herumliegt, zu einem Schrotthändler. Für Jaime ist die Rückkehr zur Mine San José nicht einfach. 18 Jahre arbeitete er für das Unternehmen Minerías San Esteban, den Eigentümer der Mine. Nach dem Unglück verlor er seinen Job, nun muss er LKW fahren.

Jaime: „Ich habe in der Firma gearbeitet, in der Verwaltung, lange Jahre. Und es ist schon schwierig, jetzt hierher zurückzukommen. Die Büros sind weg, nichts gibt es hier mehr. Und alles nur wegen eines Unfalls. Wir verloren alle unsere Jobs. Es ist ein Jammer.“

Die Mine San José steht seit dem Unfall still. Vermutlich wird sie nie wieder in Betrieb gehen. Enrique, der mit seinem Schäferhund am Eingang des Minengeländes wacht, bedauert ebenfalls das Ende der Gold- und Kupfermine. Wie Jaime arbeitete auch Enrique in der Mine, in der Materialverwaltung. Nun sitzt er inmitten der Wüste und bewacht eine Geistermine. Auf die 33, die er alle persönlich gut kennt, ist Enrique nicht gut zu sprechen.

Enrique: „Es ist leider von vielen Leuten viel Mist gequatscht worden, aber der Laden war nicht schlecht. Und was die 33 betrifft: Es scheint, dass die vielen Interviews und Auslandsreisen manchen nicht gut bekommen sind. Die haben sich ganz schön aufgepumpt. Man sollte immer der bleiben, der man war, und sich nicht ändern.“

Noch immer sind die Details des Unfalls nicht völlig geklärt. Fest steht, dass sich im oberen Drittel der Mine ein tonnenschwerer Felsbrocken löste und die marode Mine durchbrach. Das Gestein versperrte den Bergarbeitern den Weg zurück an die Oberfläche. Zu den vorgesehenen Notschächten konnten die 33 nicht vordringen, weil die Rettungsleitern fehlten.

Unmittelbar nach dem Unglück, vor allem aber nach der dramatischen Rettung der 33 Bergarbeiter, versprach Präsident Sebastián Piñera eine umfassende Neuordnung der Minenkontrollen. Ob sich wirklich etwas zum Besseren verändert hat, darüber gehen in Chile die Meinungen auseinander. Mario Sepúlveda, jener extrovertierte Bergarbeiter, der nach seiner Rettung wilde Tänze aufführte und sich seine Freude förmlich aus dem Leib schrie, er differenziert bei seinem Urteil.

Mario Sepúlveda: „Also, ich denke, es hat sich vieles zum Guten verändert, auch wenn noch sehr viel fehlt. Wir brauchen noch deutlich mehr Inspekteure, die Beamten müssen besser geschult werden. In den großen Minenunternehmen gibt es kaum Probleme. Die gibt es aber vor allem in den mittelgroßen Betrieben. Da ereignen sich immer wieder Unglücke, wie in unserem Fall.

Die Arbeiter in den kleinen Minen passen dagegen ziemlich gut auf sich auf, weil die Bedingungen ohnehin sehr schlecht sind. Es geht also in erster Linie um die mittelgroßen Minen. Die Unternehmer kümmern sich oft nicht um ihre Arbeiter, behandeln sie schlecht. Und unser Beispiel ist allen noch gut vor Augen. Das hat viele erschüttert. Und ich hoffe, dass viele Bergbauunternehmen in aller Welt das genau verfolgen und analysieren, damit sich solche Fehler nie wieder ereignen.“

So klingt die eiserne Tür der Phönix-Kapsel. Genauer gesagt, von Phönix 2. Drei dieser Kapseln konstruierte die chilenische Armee in aller Eile. Zum Einsatz bei der Bergung der Mineros kam Phönix 2, und die steht bei Guillermo Cortez im Regional Museum der Atacamawüste in Copiapó. Voller Stolz erklärt der Museumsdirektor die Details des berühmten Ausstellungsstückes.

Guillermo Cortez: „Die Kapsel besteht aus zwei Teilen. Wenn es ein Hindernis gegeben hätte, und die Kapsel nicht weitergekommen wäre, hätte man den Hebel bedienen können, und dann hätte sich der untere Teil vom oberen Teil der Kapsel gelöst und wäre wieder nach unten gegangen. Dann wäre nur der obere Teil stecken geblieben.“

Immer wieder kommen die Mineros zu Guillermo Cortez in das kleine Museum in Copiapó. Nur drei der 33 haben sich die Kapsel, mit der sie gerettet wurden, nicht wieder angesehen. Hinein gegangen in die Kapsel sei aber keiner der Bergarbeiter, meint der Museumsdirektor mit einem Schmunzeln. Einer der 33 kommt besonders häufig ins Museum. José Ojeda, der als Siebter gerettet wurde. Und das hat einen Grund.

Guillermo Cortez öffnet den Tresor im Museum und holt vorsichtig eine kleine Schatulle heraus. Er trägt weiße Handschuhe und einen Mundschutz. Das sei das Original, erklärt der Museumsdirektor feierlich und liest den Text vor.

ES geht uns gut, wir sind im Schutzraum, die 33. Es ist der historische Zettel, geschrieben von José Ojeda, mit dem mehr als zwei Wochen nach dem Einsturz der Mine klar war, dass die Bergarbeiter wohlauf sind.
Ein Zettel, den sich der Minero immer wieder anschaut, der ihn immer wieder zurückführt in eine Zeit voller Ängste und Zweifel.

Auch Jorge Galleguillos ist ständiger Gast im Museum, auch ihn lassen die dramatischen 69 Tage tief unter der Erdoberfläche, der Rummel nach der Rettung, – all diese Erlebnisse, sie lassen ihn nicht los. Und er macht sich seine Gedanken wie aus einem einfachen Minero ein in der ganzen Welt begehrter Gesprächpartner wurde. Und schuld trägt ein Unglück in einer Mine.

Jorge Galleguillos: „Sie haben uns überall unterstützt, für uns gebetet, uns sogar gesegnet. Jeder steht gerne neben einem von uns, will Bilder mit uns, Autogramme. Das war für mich völlig neu, aber auch sehr schön. Aber warum muss es erst eine Tragödie geben, dass man uns so behandelt. Erst nach solch einer Tragödie wirst du überall anerkannt, gut behandelt, – davor war es weiß Gott nicht so.“