Die Sterne von Herrnhut

Von Adolf Stock |
Im Advent ist der Herrnhuter Stern das Markenzeichen der Brüdergemeine. In einem schmalen Karton wird er als Bausatz in alle Welt verschickt. Kurz vor Weihnachten leuchten die weißen, gelben und roten Sterne überall in ganz Herrenhut. In der schmucklosen Hallenkirche hängt ein besonders großes Exemplar, um an den Stern von Bethlehem zu erinnern.
Die Mitglieder der Brüdergemeine sind die ersten Protestanten. Schon im 15. Jahrhundert haben sie sich von der römisch-katholischen Kirche getrennt. Im 18. Jahrhundert mussten sie aus Böhmen fliehen und gründeten im Exil eigene Gemeinden. Der Stammsitz Herrnhut ist ihr kleiner Vatikan.

Es ist Sonntag, der Erste Advent. Am Vormittag war ganz Herrnhut auf den Beinen, als die Eröffnung der Aktion „Brot für die Welt“ aus dem Beetsaal der Brüdergemeine bundesweit übertragen wurde. Am Spätnachmittag ist die Gemeinde wieder unter sich, und kommt zur traditionellen Hosiannaversammlung zusammen.

Im Advent hängt im schlichten Beetsaal der Brüdergemeine ein großer weißer Weihnachtsstern. Das ist schon alles.
Der Schmuck der Kirche ist die Gemeinde. Und je mehr Menschen in das schlichte Gotteshaus kommen, umso festlicher wird der Raum, sagen die Herrnhuter. Der weiße Saal ist das Brautkleid, und die Gemeinde ist die Braut, die auf Jesus Christus wartet, auf den Bräutigam. Und noch bis vor wenigen Jahren saßen die Brüder und Schwestern der Unität streng nach Geschlecht getrennt auf den weiß lackierten Bänken.

Statt einem Altar steht im Herrnhuter Beetsaal ein kleiner Tisch vor der Gemeinde. An ihm sitzt Pfarrer Andreas Tasche, um aus dem Evangelium zu lesen und die Singstunde zu leiten.

„Und dann kommt dieser Jesus auf einem Esel. Auf einem Esel und nicht auf einem Streitross. … Darf ich bitte ein Glas Wasser bekommen…“
So ganz ist der ungewohnte Medienstress noch nicht verflogen. Mitten in der Lesung des Evangeliums hat Andreas Tasche einen kleinen Schwächeanfall. Doch jetzt geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Es wird gesungen, gebetet und aus dem Evangelium gelesen.

Nach der Hosiannaversammlung machen sich die Gemeindemitglieder auf den Heimweg durch das winterliche Herrnhut.

„Wenn man in der Adventszeit so durch die Straßen geht, sieht man natürlich überall den Herrnhuter Advents- und Weihnachstern, in den Häusern größere und kleine Exemplare, aber eben viel auch vor den Häusern, vor den Hauseingängen und das ist, gerade wenn es so verschneit ist wie jetzt, eine ganz besondere Stimmung, die hier auch so die Gäste und Besucher empfängt.“

Thomas Przyluski, Sprecher der Herrnhuter Brüder-Unität, kommt aus der Gegend und ist mit dem Stern groß geworden. Auch wer nicht viel über die Historie und das Leben der Herrnhuter weiß, kennt den Stern. Wer mehr wissen will, muss in Richtung Ruppersdorf fahren. Dort an der Landstraße liegt die kleine Manufaktur, wo in Handarbeit seit 150 Jahren die Herrnhuter Sterne entstehen. Oskar Scholz, Geschäftsführer der Sterne GmbH geht über den Betriebshof zur Schauwerkstatt.

" Hier geht’s rein. Bitte sehr …
Vielen Dank, Auf Wiedersehen …
So und hier können Sie jetzt sehen, die einzelnen Verrichtungen, das ist der Papierstern, der hier hergestellt wird. Also es gehört auch schon sehr viel Zeit dazu, die man investiert.
Jetzt tue ich das ausgestanzte Papier mit Leim einstreichen und es über diesen Kegel kleben hier, da kriegt das Papier die Form des Kegels.“

Das Ergebnis erinnert an Eistüten, die zunächst in einem großen Pappkarton landen.

„Das hier, das ist wie ein Schneefall im Hintergrund, dort werden die Zacken nun vorbereitet für die weitere Verarbeitung.“

Siebzehn viereckige und acht dreieckige Pyramiden werden zusammengefügt und ergeben den Herrnhuter Stern. Zunächst, so erzählt Oskar Scholz, hatte der Stern überhaupt keinen theologischen Hintergrund.

„Ein Erzieher eines Herrnhuter Internates hat den Kindern beigebracht, wie man aus Flächen räumliche Körper darstellt, diese räumlichen Körper, Pyramiden, hat man aneinander gereiht und der Stern entstand. "

Anfang des letzten Jahrhunderts hat dann der Besitzer einer Lampenschirmfabrik den Stern zur Produktionsreife gebracht, seitdem wird er in alle Welt verkauft. Wenn man so will, ist das typisch für die Brüder-Unität, denn Arbeit, Alltag und Glaube gehören bei ihnen zusammen, und so haben sie sich von Anfang an auch wirtschaftlich engagiert. Heute ist die „Herrnhuter Sterne GmbH“ nur einer von sechs Wirtschaftsbetrieben der Herrnhuter in der Oberlausitz. Im benachbarten Niesky werden Lacke produziert, es gibt einen Forstbetrieb und Holzwerkstätten, eine Textildruckerei und mehrere Buchhandlungen.

Am nächsten Morgen kehrt vor dem Archiv der Brüderunität ein kleiner Schneeflug den Neuschnee von den Wegen.

" Guten Morgen, Kröger, herzlich willkommen. Ich habe es trotzdem nicht geschafft in meinem Zimmer soviel Platz zu schaffen, dass wir gemütlich sitzen können, da muss ich eben mal schnell was beiseite schaffen. Bitte kommen Sie rein. "

Seit zwei Jahren ist Rüdiger Kröger Direktor des Unitäts-Archivs. Es sei ein Archiv zum Verlieben, schwärmt Rüdiger Kröger, der zwischen lauter Zetteln, Büchern und Schriftstücken sitzt.

Im letzten Jahr hat das Archiv einen Neubau bekommen, eine moderne Blackbox, die diskret hinter dem alten Archivgebäude steht. Das Gedächtnis der Herrnhuter Brüdergemeine ist in Sachsens modernstem Archivgebäude untergebracht. Wie von Geisterhand öffnen und schließen sich hier die Türen. Zweieinhalb Kilometer Regale, vollgestellt mit grauen Pappkartons. Wohin man auch schaut, nichts als graue Pappkartons. Rüdiger Kröger greift wahllos in ein Regal.

" Wenn man also so eine Kiste mal aufmacht, wir haben also Stülpdeckelkartons, dann kommt da eine Mappe zum Vorschein. Ich meine, was wir hier gerade haben, die herrschaftlichen Statuten, hier habe ich natürlich gerade etwas sehr Schönes gefunden, also die Ordnungen, wie man gemeinsam miteinander leben will. "

Diese Ordnungen reichen Jahrhunderte zurück. 1467 trennten sich die Mährischen Brüder von Rom, um ihr Urchristentum zu leben. Verfolgt und bedroht mussten sie Böhmen verlassen. Ein versprengter Rest zog in die Oberlausitz, wo Reichsgraf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf ihnen Schutz gewährte. Damals entstand der Ort Herrnhut, die Urzelle der neuen Brüder-Unität.

Im Archiv werden auch die Lebensläufe archiviert, die die Brüder und Schwestern zu Lebzeiten schreiben, um bei der Beerdigung Rechenschaft über ihr Leben abzugeben. Das galt auch für Bruder Vogt, der Anfang der 70er Jahre 90-jährig verstorben ist und dessen Leichenfeier als Tondokument im Unitäts-Archiv zu finden ist.

" Wenn ich jetzt versuche, eine Skizze meines Lebens zu zeichnen, so tue ich dies nicht ohne Bedenken. Freilich soll ein Lebenslauf, der vor versammelter Gemeinde verlesen werden soll, in erster Linie die innere Führung und Entwicklung aufzeigen, die der Schreiber erleben durfte, es kommt ja dabei darauf an, zum Lobe Gottes einer gläubigen Gemeinde darzulegen, wie der Herr unseres Lebens uns trotz unserer Mängel und Sünden seine Wunderwege geführt hat. "

Das neue Archiv ist modern und funktional. Doch der alte Lesesaal ist spannender für einen Laien, der mehr über die Herrnhuter erfahren will. Hier trifft man auf einen alten Professor aus Nordamerika, der Schriften studiert, und es gibt Vitrinen mit Exponate aus der reichen Geschichte der Brüder-Unität. Denn nach der Neugründung durch Graf Zinzendorf begannen die Brüder und Schwestern bald in die ganze Welt zu ziehen. Und so erzählen die Vitrinen auch von der weltweiten Missionsarbeit.

" Zinzendorf hat auf einer Reise 1731 an den dänischen Hof in Kopenhagen Bekanntschaft gemacht mit einem Farbigen, mit einem ehemaligen Sklaven von den westindischen Inseln, der inzwischen christianisiert wurde und der ihm erzählte, dass also seine Familie noch in tiefster Dunkelheit, ohne Kenntnis des Evangeliums leben müsste, was Zinsendorf sehr ergriffen hat. Und als er dann zurückkehrte, hat er seinen Geschwistern erzählt, wir müssen etwas tun. Und das war dann der Anfang des Missionsgedankens in der Brüdergemeine. "

Schon ein Jahr später sind die ersten beiden Missionare nach Westindien gefahren. Die Mission in Nord- und Südamerika sollte bald folgten. Heute ist die Mission vor allem in Afrika tätig. Allein in Tansania gibt es vier Herrnhuter Provinzen.

" Die ehemaligen Missionsgebiete sind jetzt selbstständige Kirchenprovinzen, zum größten Teil zumindest, und es gibt also immer noch Mitglieder der Brüdergemeine, die zum Dienst in die Mission gehen, obwohl man mehr der Ansicht ist, dass die Kirchen das durchaus auch selbst leisten können, das heißt dass man also nicht wie in den früheren Jahrhunderten die Missionare immer stellt, sondern dass man Hilfe zur Selbsthilfe leistet. "

Gertrud Klätte besitzt die Tonbandaufnahmen mit der Musik der Brüder und Schwestern aus Tansania. Sie wohnt im Schwesternheim der Brüder-Unität. Die kleine Wohnung steckt voller Erinnerungen, die aus ihrer Missionszeit stammen. Wenn Gertrud Klätte von Tansania erzählt, spürt man gleich diesen handfesten Pragmatismus, der bei aller Religiosität die Herrnhuter auszeichnet.

" Nun muss man ehrlich sein, das ist nicht alles aus reiner Überzeugung oder was weiß ich, Erweckung oder so was. Zum Teil hängt es auch einfach damit zusammen, dass es in Tansania so ist, die Christen stehen auf der obersten sozialen Stufe, dann kommen die Moslems und dann kommen die Animisten, also die mit der Naturreligion, und vor allen Dingen die Animisten sind die Kandidaten für die neuen Christen, weil die sagen: die Christen haben es besser, die haben bessere Schulen, die haben bessere Ausbildung und die verdienen mehr Geld, weil sie besser gelernt haben, also wir wollen Christen werden, dann sind da manchmal ganz äußerliche Vorteile, die man sich davon erhofft, dass man Christ wird. "

Das Schwesternhaus ist ein schlichtes und zugleich nobles Barockgebäude. Die quadratische Platzanlage in Herrnhut mit dem Beetsaal und den Brüder- und Schwesternhäusern wurde zum Vorbild für die Siedlungen rund um den Globus. Diese Anlagen sind gebaute Theologie, maßgeschneidert für die Bedürfnisse der Brüder-Unität.

Etwas abseits vom Platz, in einem schönen Barockpalais, das wie ein kleines Schloss aussieht, hat die weltweite Brüder-Unität ihren Sitz. Es ist ihr kleiner Vatikan, der freilich ohne all den Pomp und ohne strenge Hierarchie auskommt. Rote Gucci-Schuhe oder teure Uhren, wie sie der neue Papst gern trägt, wären in Herrenhut undenkbar. Thomas Przyluski führt durch das Haus über eine breite Treppe in den ersten Stock zum großen Saal.

" Der Saal ist im letzten Jahr renoviert worden, weil wir doch das Losungsjubiläum hatten.
Ja wir sind hier in dem Sitzungssaal, im Herrnhuter Vogtshof, ein schöner barocker Saal, und in diesem Saal wird jedes Jahr einmal, so im April ungefähr, werden die Herrnhuter Losungen gezogen. "

„An diesem Ende des Tisches steht dann die Schüssel, und dann steht ein Mitglied unserer Kirchenleitung oder ein Pfarrer der Brüdergemeine und zieht dann nacheinander die Losnummern raus, daneben sitzt eine Person, die dann die jeweilige Bibelstelle dazu sucht, die Nummer wird angesagt und dann wird die Bibelstelle vorgelesen und dann gibt es an diesem Ende des Tisches zwei Mitarbeiterinnen, die das aufschreiben.“

Neben dem Herrnhuter Stern sind die Losungen das zweite Markenzeichen der Herrnhuter Brüdergemeine, die weltweit in 50 Sprachen übersetzt und gelesen werden.

„Das Losen an sich ist ja in der Brüdergemeine über lange Jahre eine sehr beliebte Praxis gewesen, um eben ein Gottesurteil oder einen Willen Gottes zu erkennen, da hat man viel gelost, ob man eine Reise machen soll, oder wen man wohin schicken soll. Zum Beispiel die zwei ersten Missionare, die ausgesandt wurden, die sind auch ausgelost worden, oder ob man eine bestimmte Arbeit beginnen soll, ist ausgelost worden. Und in dieser Tradition hat dann Zinzendorf 1728 der Gemeinde abends mal einen Spruch mitgegeben für den nächsten Tag, der dann am Morgen von Haus zu Haus so weitergesagt wurde, Herrnhut war ja damals klein und man hat sich ja fast täglich abends getroffen. Und so war das dann Tradition, dass abends ein Spruch für den nächsten Tag mitgegeben wurde, der dann eben am nächsten Morgen wieder reihum gesagt wurde. Und für das Jahr 1731 hat Zinzendorf dann diese Losungen das erste Mal in einem kleinen Büchlein zusammengestellt. Das reine Losen hat dann erst etwas später angefangen, aber schon im 18. Jahrhundert und auch unter Zinzendorf.“

Herrnhut im Advent. Kurz nach vier wird es schon wieder dunkel. Eben noch haben die verschneiten Felder und der Gottesacker in einem grünlichen Blau geschimmert. Vom historischen Aussichtsturm neben dem Friedhof kann man bis zu den Zittauer Bergen blicken. Jetzt ist die Sonne am Horizont ganz verschwunden, und die großen und kleinen Sterne beginnen wieder zu leuchten.