Die "Stern"-Affäre von 1983

22.04.2008
Die Affäre um die Hitler-Tagebücher gilt als die peinlichste Panne in der bundesdeutschen Pressegeschichte. Der Autor Michael Seufert rollt nun in "Der Skandal um die Hitler-Tagebücher" den Skandal auf 300 Seiten noch einmal auf.
Es war die peinlichste Panne in der bundesdeutschen Pressegeschichte, eine Posse, wie geschaffen für eine Filmkomödie – der "Stern"-Skandal von 1983 um Hitlers Tagebücher. "Die übermenschlichen Anstrengungen der letzten Zeit verursachen mir Blähungen im Darmbereich und Eva sagt, ich habe Mundgeruch." So klang der Führer privat, zitiert in "Schtonk". In den echten falschen Tagebüchern schrieb der Führer nicht minder possierlich: "Der kleine Goebbels macht schon wieder Geschichten mit Frauen. Werde in den nächsten Tagen einen geheimen Erlass herausgeben..."

Es gibt Bücher über die Affäre (etwa "Der Fall 'Stern' und die Folgen" von Erich Kuby, 1983) und zahllose Medienberichte. Nun, 25 Jahre nach dem Eklat, hat ein Insider die Sache auf dreihundert Seiten noch einmal aufgerollt. Michael Seufert, geboren 1943 in Bernburg/Saale, war von 1970-97 beim "Stern" – als Korrespondent, als Ressortleiter, ab 1990 als stellvertretender Chefredakteur. Während der Tagebuch-Krise erhielt er von Herausgeber Henri Nannen einen Spezialauftrag: "Klären Sie die Sache auf, ohne Ansehen der Person. Sie haben freie Hand."

In seinem Buch erzählt Seufert die komplette Story. Er berichtet: vom Nazitick des Star-Reporters Gerd Heidemann und seiner chronischen Geldknappheit (die Göring-Jacht "Carin II", von Heidemann erworben, hatte den preisgekrönten Journalisten in Schulden gestürzt); von dem Sachsen Konrad Kujau, einem hoch talentierten Fälscher, der NS-Devotionalien auf Bestellung lieferte – bei Bedarf auch Hitlers Tagebücher; von "Stern"-Verlegern, die wild waren auf das Geschäft mit diesen Tagebüchern (und die Mär von ihrer Entdeckung in der DDR gern glaubten); von einer Chefredaktion, die lange nicht eingeweiht wurde; von Gutachtern, die die Tagebücher mit anderen Schriftstücken aus Kujaus Feder verglichen und die Bücher prompt für echt erklärten.

Der "Stern" erwarb 60 Hefte für 9,3 Millionen DM. Im April 1983 zeigte die Redaktion ihren Sensationsfund vor zwei Dutzend TV-Teams und Hunderten Reportern – dunkle Kladden mit den Initialen "FH". ("Führer Hitler"? "Führer Hauptquartier"? Später erfuhr man, Kujau hatte H und A verwechselt.) Im Vorspann der ersten Titelstory hieß es: "Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen." Nur Tage später platzte die Tagebuch-Blase – alles falsch, eindeutig Nachkriegsware. Experten hatten Aufheller und Kunstfasern entdeckt. Was für eine Pleite. Die Chefredakteure wurden zum Rücktritt gezwungen, die Auflage des Magazins stürzte ab. Herausgeber Henri Nannen entschuldigte sich ("Wir haben Grund, uns vor unseren Lesern zu schämen"), Kujau und Heidemann mussten für Jahre ins Gefängnis. Wie kam es zu dem Desaster, wer oder was war schuld? Blindheit, meint Seufert, Geldgier, Machtgier und die Faszination des Bösen.

Was ist neu an dem Buch? Die Faktenfülle, die Detailgenauigkeit (selbst die Uhrzeit bestimmter Aussagen und Ereignisse wird vermerkt). Der Autor selbst lobt "die umfassende Darstellung". Leider: Bisweilen verirrt sich der Leser in diesem Dschungel der Namen und Daten. Es gibt keine Quellenangaben, keine Verweise auf andere Titel zum Thema, keine Fotos, keine Interviews mit Beteiligten. Seufert schreibt ausufernd und ohne jene sprachliche Eleganz, die der "Stern" für sich reklamiert. Seine Rolle als Ermittler skizziert er nur, das "Ich" oder "Wir" im Buch bleibt schemenhaft. ("Wir waren sehr schnell, wir waren sehr erfolgreich. Aber je besser wir waren, umso dämlicher standen wir da.") Wie weit der Verfasser die Wahrheit sagt, bleibt ungewiss. (Ein Kollege hatte schon 1989 recherchiert, Peter-Ferdinand Koch, Ex-Redakteur des "Spiegel". Für das Buch "Der Fund. Die Skandale des "Stern" – Gerd Heidemann und die Hitler-Tagebücher" stellte Koch dem späteren Vize-Chef der Zeitschrift 48 Fragen, die Antworten druckte und kommentierte er in seiner 800-Seiten-Studie. Und immer wieder fragte Koch in dieser Studie: "Lügt Michael Seufert?")

Wer die Geschichte des skurrilen Skandals nachlesen möchte, dem sei Seuferts Werk empfohlen. Wer neben nackten Fakten aber jenen Unterhaltungswert sucht, den die Posse zweifellos besitzt, sollte wieder einmal "Schtonk" schauen: Der Film beschreibt – trotz scheinbar grotesker Zuspitzung – Handlung und Protagonisten mit verblüffender Genauigkeit. Wie sagte Regisseur Helmut Dietl 1992 im "Stern"? "Die einzige seriöse Form, sich mit der Tagebuch-Affäre zu befassen, ist die Komödie."

Für Seufert war die Affäre keine Komödie, vielmehr – so schreibt er am Ende des Buchs – "ein warnendes Beispiel", das allen Medien zu denken geben sollte. "Die Grenzen zwischen Verlag und Redaktion dürfen nicht verwischt werden. Exakte Recherche und kritische Bewertung der Erkenntnisse dürfen in Redaktionen nicht durch Glauben und blindes Vertrauen ersetzt werden. Ideologische Scheuklappen haben im Journalismus nichts zu suchen. Gesundes Misstrauen auch der eigenen Arbeit gegenüber gehört zu den journalistischen Tugenden." Eine objektive, rein analytische Darstellung des Skandals durfte man von diesem Autor gleichwohl nicht erwarten. Dazu war er zu tief in den Fall verstrickt. Und ein "Stern"-Mann ist er offenbar bis heute geblieben.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Michael Seufert: Der Skandal um die Hitler-Tagebücher.
Scherz Verlag, Frankfurt/Main 2008. 319 Seiten, 14,90 Euro.