Die Sprengkraft eines Skandalwerks

Von Elisabeth Nehring · 26.10.2013
Sasha Waltz hat sich ein unbequemes Werk vorgenommen: Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps" - und es ist ihr gelungen, das Stück ins Heute zu übersetzen. Waltz präsentiert in der Staatsoper des Berliner Schillertheaters eine aufwühlende Choreografie.
Vor Hundert Jahren erschütterte eine Uraufführung die Pariser Theaterwelt: 1913 wurde "Sacre du Printemps" zum Skandal, noch mehr aber zum Aufbruch in die künstlerische Moderne. Zur Musik von Igor Strawinsky choreografgierte der Ballett-Russes-Tänzer Vaclav Nijinsky ein heidnisches Ritual, das so gar nichts mehr mit dem immer wieder erneuerten Erbe des klassischen Tanzes zu tun hatte. Stampfen und Hüpfen statt Schwerelosigkeit, eingedrehte Füße und verdrehte Hände statt korrekter Linien, bunte folkloristische Kostüme statt durchscheinender Tutus.

Seither haben sich zahlreiche Choreografen an die Neuinterpretation des "Sacre" gemacht, darunter Maurice Béjart und Pina Bausch. Und nun – einhundert Jahre später – auch die Berliner Choreografin Sasha Waltz. Erst mit den Tänzern des Mariinsky-Theaters, dann mit der eigenen Companie. Dieselbe Choreografie, aber was für ein Unterschied! Die klassischen Ballerinen und Ballerinos geben ihr Bestes, die Tänzer der Sasha Waltz and Guest-Companie geben alles. Zusammen mit der fantastischen Staatskapelle unter der Leitung von Daniel Barenboim erreichen sie höchste Form und höchste Überwältigung und treiben damit an die Grenze dessen, was Theater überhaupt leisten kann.

Nicht nur Freiheit, sondern auch Stabilität und Sicherheit
Ein emotional, aber auch intellektuell aufwühlendes Ereignis, an dem sich Verschiedenes zeigt: Erstens, dass die Sasha Waltz and Guests-Version des "Sacre" nicht nur in der Tradition Pina Bauschs steht, die 1975 einen ähnlich aufwühlenden "Sacre du printemps" choreografierte, sondern darüber hinaus auch in der Lage ist, diese Meisterschaft zu aktualisieren und zusammen mit ihren Tänzern, die selbstverständlich so ganz anders sind als die vor vierzig Jahren, ganz ins Heute zu überführen.

Zweitens – und viel schwerwiegender – weist es auf die Unersetzlichkeit der eigenen Companie für eine Choreografin wie Sasha Waltz. Dass es für höchste künstlerische Verfassung nicht nur Freiheit, sondern auch Stabilität und Sicherheit braucht, mag eine Binsenweisheit sein – die jedoch gar nicht oft genug betont werden kann. Zu welchen Höhen sich eine Companie wie die von Sasha Waltz aufschwingen kann, hat dieser Abend bewiesen. Ihre bedeutenden Künstlerkollegen, allen voran Daniel Barenboim, haben das schon lange erkannt – wann tut es endlich die Berliner Kulturpolitik?

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