Die SPD und der Demokratische Sozialismus

Von Rolf Schneider · 04.12.2007
Die deutsche Sozialdemokratie hat sich auf ihrem letzten Parteitag, dem in Hamburg, ein neues Grundsatzprogramm gegeben. Es dürfte das Schicksal des vorausgegangenen Berliner Programms aus den neunziger Jahren teilen, von kaum einem gelesen zu werden, auch von Parteimitgliedern nicht.
Die wenigen Kommentare, die bislang erschienen, außer dem Selbstlob, das sich die Partei reichlich spendierte, loben die Sprache, die inhaltliche Konsistenz und vermuten bei der Formulierung die Handschrift des alten Fahrensmannes Erhard Eppler. Das einzige, was ein bisschen größere Aufmerksamkeit erregte, war der Umstand, dass, allen Einwänden zum Trotz, der Begriff "demokratischer Sozialismus" fortgeschrieben wurde.

Der Dichter-Sänger Biermann hat Parteiboss Beck deswegen öffentlich gerüffelt. Wie häufig bei Biermann gab es weniger Argumente als verbale Grobianismen. Wir wollen uns der Sache etwas bedachter zuwenden.

Der Sozialismus als Begriff und politische Vorstellung kam auf im 19. Jahrhundert. Er war die Antwort des Proletariats auf die kapitalistische Industrialisierung und die durch dieselbe ausgelösten Verwerfungen. Er organisierte die Arbeiterschaft zur mächtigen Kraft, seine Theoretiker, voran Karl Marx und Friedrich Engels, entwarfen die Alternative einer von wirtschaftlichen Ausbeutung befreiten egalitären Ordnung, an deren Beginn die Enteignung, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel stehen sollte. Über den Weg, ob Revolution oder Reform, entzweiten sich Sozialdemokraten und Kommunisten.

Letztere haben nach 1917 in etlichen Ländern ihr Programm verwirklichen können. In Europa sind sie damit blamabel gescheitert. In den Ländern, wo sie noch regieren, zeigt sich entweder eine rasanten Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen, wie in China und Vietnam, oder eine Perpetuierung von Unterdrückung und materiellem Elend, wie in Kuba und Nordkorea.

Wie also soll ein funktionierender Sozialismus, ein demokratischer, wie soll er beschaffen sein? Das neue SPD-Programm sagt dazu:

"Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte des Demokratischen Sozialismus. Sie sind unser Kriterium für die Beurteilung der politischen Wirklichkeit, Maßstab für eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft".

Später heißt es, die Sozialdemokratie erstrebe eine Gesellschaft, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten könne. Ersetzt man das Wort Solidarität durch das Synonym Brüderlichkeit, hält man bei den Forderungen der Französischen Revolution von 1789, die am Beginn des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters stehen.

Wie dies alles ökonomisch realisiert werden soll, erzählt das Programm an keiner Stelle. Sieht man die Regierungspraxis der SPD, ist Vergesellschaftung nirgends zu entdecken, eher das Gegenteil, nämlich die Privatisierung von Staatseigentum. Im Programm kommt noch das Wort vom demokratischen Sozialstaat ins Spiel. Offenbar sind, ohne dass es gesagt wird, skandinavische Vorbilder in Spiel.

Manche SPD-Leute lassen wissen, man wolle den demokratischen Sozialismus vorm Zugriff der Linkspartei schützen. Daran ist so viel richtig, dass die Linken aus der ausdrücklich so genannten Partei des demokratischen Sozialismus hervorgingen. Die Linkspartei hat noch kein Programm. Das will sie sich erst im Frühjahr 2008 zulegen. Die alte PDS hatte eines, aber zum Sozialismus, dem demokratischen, fand sich dort auch nicht viel. Man sagte lediglich, was man nicht wolle. Die sozialistische Idee sei durch ihren Missbrauch als Rechtfertigung von Diktatur und Unterdrückung beschädigt worden. Die Partei sehe sich verpflichtet, das Verständnis von Sozialismus neu zu durchdenken. Man konstruiere kein "Modell" einer sozialistischen Gesellschaft, sondern gehe von der einfachen Frage aus: "Was brauchen Menschen, um selbstbestimmt leben zu können?" Diese Frage könnte auch ein neoliberaler Freidemokrat stellen.

Die Arbeiterbewegung, deren Teil die Sozialdemokraten sind, hat den Kapitalismus gezähmt und menschlicher gemacht. Sie hat in vielen Ländern die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage der abhängig Beschäftigten verbessern können. Vielleicht ist mehr nicht zu erreichen. Vielleicht kann es bloß noch darum gehen, diesen historischen Kompromiss zu bewahren und zu verteidigen. Vielleicht könnte man über alternative Muster nachdenken, die der Realsozialismus des Ostblocks nicht verdorben und denunziert hat. Sagen wir: Genossenschaften, Stiftungen, Arbeitnehmerbeteiligungen, gesellschaftliche Fonds - alles Konstrukte, bei denen Gemeineigentum und ökonomische Effizienz sinnvoll ineinander greifen könnten.

Hier, wenn überhaupt, ließe sich vielleicht der demokratische Sozialismus festmachen. Dass in den Think Tanks der SPD darüber reflektiert wird, lässt sich nicht erkennen. Allenthalben bleibt es bei aktueller Machtpolitik und leerem Wortgeklingel, so dass wohl wirklich besser wäre, der Sozialismus-Begriff würde eliminiert und der Parteigeschichte überantwortet.

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift "Aufbau" in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.