Die Spanische Grippe

Ein Virus, das Millionen tötete

Patienten, die an der Spanischen Grippe erkrankt sind, liegen in Betten eines Notfallkrankenhauses im Camp Funston der Militärbasis Fort Riley in Kansas (USA)
Patienten, die an der Spanischen Grippe erkrankt sind, liegen in Betten eines Notfallkrankenhauses in Kansas, USA. © Foto: National Museum of Health and Medicine/dpa
Von Michael Lange · 01.03.2018
Von 1918 bis 1920 forderte die Spanische Grippe aktuellen Schätzungen zufolge rund 50 Millionen Menschenleben. Medizin und Politik waren von der Pandemie völlig überfordert. Erst im Jahr 1933 gelang es, das verantwortliche Virus zu isolieren.
Die Virus-Grippe Influenza kommt jedes Jahr. Und so war es im Frühjahr 1918 zunächst einmal nicht besonderes, als eine Grippewelle durch Deutschland zog. Noch im Mai vermeldete die Nachrichtenagentur Reuters eine "merkwürdige Krankheit", die angeblich aus Spanien kam.
Die Zeitung "Berliner Tag" dichtete sogar ein Spottlied:
"Diese fiebrigen Beschwerden keimten fern im schönen Süd,
Wo die Mandeln dicker werden und die Rübe plötzlich glüht."
Der Berliner Arzt und Historiker Wilfried Witte, der dieses und andere Zitate gesammelt hat, schüttelt den Kopf. Heute weiß jeder, dass die Krankheit alles andere als harmlos war – und aus Spanien kam sie auch nicht:
"Bekannt ist ja, dass Spanien eines der nichtkriegführenden Länder war. Dementsprechend waren die Zensurmaßnahmen wesentlich geringer als in den kriegführenden Ländern. Und es gab eine Pressekonferenz im Frühjahr 1918, auf der kundgetan wurde, dass es die rätselhafte Krankheit jetzt auch in Spanien gäbe und sogar der König sei daran erkrankt."

Gesellschaft in keiner Weise vorbereitet

Wilfried Witte beschreibt in seinem Buch "Tollkirschen und Quarantäne", wie Medizin und Politik 1918 völlig überfordert waren und die Grippe zunächst ignorierten:
"Kurz gefasst kam die Spanische Grippe in eine Gesellschaft, die auf diese Grippe in keiner Weise vorbereitet war."
Von 1918 bis 1920 forderte die Spanische Grippe aktuellen Schätzungen zufolge rund 50 Millionen Menschenleben. – sie ist damit die schlimmste Seuche aller Zeiten. Wann es losging, weiß niemand so genau. Der erste Patient könnte ein Koch namens Albert Gitchell gewesen sein, in einem Militärlager in Kansas. Am 4. März 1918 meldete er sich krank.
Wenige Wochen später gelangte die Grippe mit Truppentransportern an die Front nach Frankreich. Ein deutscher Soldat schrieb am 20. Juni in sein Tagebuch:
"Heute Morgen hat unsere Kompanie 40 Mann mit hohem Fieber, wieder müssen mehrere mit Tragbahre fortgetragen werden. Das geht so Tag für Tag."
Die Wissenschaftler, die zu dieser Zeit viele Fortschritte vermeldete und Krankheitserreger entdeckte, tappten im Dunkeln.
Wilfried Witte: "Es hatte sich in der Medizin eine Lehrmeinung herausgebildet, die ging aus vom Robert-Koch-Schüler Richard Pfeiffer, der in dem zeitlichen Zusammenhang ein Bakterium entdeckt hatte. Heute bezeichnet man es als Haemophilus influenzae. Und Haemophilus galt als Verursacher der Grippe. Das heißt: Man ging davon aus, dass die Grippe eine bakteriologische Krankheit ist."
Eine 3D-Illustration zeigt ein Grippevirus mit den Oberflächenproteinen.
Eine 3D-Illustration zeigt ein Grippevirus mit den Oberflächenproteinen.© imago / Science Photo Library

Dem winzigen Erreger auf der Spur

Doch die großen Koryphäen lagen falsch, aber einige Außenseiter waren bereits 1918 auf der richtigen Spur. Sie vermuteten: Irgendetwas winzig Kleines, noch kleiner als Bakterien, war am Werk.
"Man hat es bezeichnet als ultravisibel. Also man sieht es unter dem Lichtmikroskop nicht. Und zweitens als filtrierbar. Da gab es so Porzellanfilter, durch die man filtriert hat. Und wenn ein Agens noch kleiner war, als das, was man kannte, dann ging es durch diese Filter durch.
Ultravisibles, filtrierbares Virus, das war der Begriff, der existierte, und danach guckte man auch. Aber wie gesagt das hat sich in Deutschland als Lehrmeinung nicht durchgesetzt, sondern es kam erst später. Die Durchsetzung dieser Lehrmeinung kam dann vor allem über die angelsächsischen Länder."
Erst 1933 wurde das verantwortliche Grippevirus isoliert – und seit den 1990er-Jahren kennen Wissenschaftler sein Erbgut. Demnach handelte es sich um ein Grippe-Virus, allerdings um ein besonders aggressives.

Die Oberflächenproteine mit Nummer eins

Virologen, wie Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, kennen es inzwischen sehr gut:
"Wir nennen dieses Virus H1 N1, H und N sind zwei Proteine an der Oberfläche des Influenza-Virus. Und die haben die Nummer eims, weil die Medizin zu der Zeit angefangen hat, zu zählen. Später sind weitere Varianten hinzugekommen, die hat man dann weiter hinzugezählt. Das ist das erste menschliche Influenzavirus, das man richtig ernst genommen und beforscht hat."
H steht für Hämagglutinin und N für Neuraminidase. Die Namen sind nicht so wichtig. Wichtig ist: Es sind Oberflächeneiweiße auf dem Virus. Die Virologen nutzen sie, um die Grippeviren voneinander zu unterscheiden. Und auch das Immunsystem des Menschen nutzt die Oberflächeneiweiße, um die Viren als Gefahr zu erkennen und sich zu wehren.
"Es ist eine der großen Fragen, ob das Virus daran schuld war, und das war es sicherlich. Man sieht im Tierversuch, dass dieses H1 N1 andere krankmachende Eigenschaften hat, wenn man das vergleicht mit späteren Influenzaviren. Die waren aber auch wiederum nicht harmlos, muss man dazu sagen."

Gefährliche Mischung mit Mutationen

Ursache Nummer eins für die Folgen der Spanischen Grippe: das Virus selbst. Es entstand aus einer Vermischung von Vogel- und Säugetierviren, und wurde dann durch Mutationen, kleine genetische Veränderungen, noch gefährlicher. Aber es war nicht das Virus alleine.
"Wahrscheinlich hat es auch zusätzlich eine besondere Konstitution in der Bevölkerungsimmunität gegeben, die das begünstigt hat."
Ursache Nummer zwei: Das Immunsystem der Menschen von 1918 war nicht vorbereitet. Insbesondere die Abwehr der Altersgruppe zwischen 20 und 40 kannte dieses Virus vom Typ H1 N1 nicht. Das Immunsystem der Betroffenen lief auf Hochtouren, konnte aber nichts gegen die unbekannten Viren ausrichten.
"Und dann gab es natürlich auch soziale Konstellationen, zum Beispiel den zu dieser Zeit stattfindenden Ersten Weltkrieg."

Große Pandemie jederzeit wiederholbar

Viele Menschen litten Not und die medizinische Versorgung war mangelhaft. Heute könnte diesen Grippepatienten besser geholfen werden. Aber verhindern ließe sich eine Pandemie auch heute nicht, warnt Christian Drosten. Dazu bräuchte man einen neuartigen Impfstoff.
"Wir müssen unbedingt einen besseren Impfstoff machen, der breiter reagiert und effizienter ist. Wir haben leider im Moment immer noch eine recht traditionelle Impfstofftechnik bei der Influenza, und davon müssen wir weg."
Solange die Impfstoffproduktion nicht besser wird, kann eine große Grippe-Pandemie jederzeit wieder kommen. Es besteht lediglich die Hoffnung, dass die Folgen weniger dramatisch sein werden als 1918.
Mehr zum Thema