Die spät entdeckte, frühe Hochkultur

24.08.2011
Die Altertumswissenschaft muss revidiert werden, meint der Sprach- und Kulturwissenschaftler Harald Haarmann. Er zeigt in seinem Buch, dass es im Donau-Balkan-Raum eine Zivilisation gab, die als erste eine Schrift entwickelte und Wörter wie Aroma erfand, die bis heute wirken.
Gängiger Lehrmeinung zufolge steht die Wiege unserer Kultur und Zivilisation am Euphrat und Tigris und am Nil. Die Griechen schufen dann, scheinbar aus dem Nichts, in Europa unsere noch heute die Welt beglückende westliche Kultur mit ihrer Wissenschaft, Technologie und Philosophie. Der Sprach- und Kulturwissenschaftler Harald Haarmann war, wie so viele andere, von der Richtigkeit dieser Sicht überzeugt, bis ihm vor über 30 Jahren erste Zweifel kamen.

Im Donau-Balkan-Raum fördert die Archäologie seit 100 Jahren immer mehr atemberaubend schöne und teils mit Schriftzeichen versehene Fundstücke auf, deren genaue Datierung bis ins 7. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung weist. Diese Fundstücke passten nicht in das von der etablierten Altertumswissenschaft geschaffene Schema. Die Sumerer haben die Schrift erfunden. Aber aus dem Donau-Balkan-Raum tauchten Schriften auf, die gut 2000 Jahre älter sind und aus deren Zeichenmaterial ganz offensichtlich spätere Kulturen Anregungen und Einzelstücke aufnahmen und weiter entwickelten.

In dem weiten Raum zwischen dem westlichen Südosteuropa und der heutigen Ukraine hinterließen die Menschen von Alteuropa nicht nur eine Fülle von materiellen Spuren, sondern auch, wie die Mythenforschung beweist, ideelle Spuren, deren Einfluss unter anderem von der griechischen Nachfolgekultur absorbiert und weiter entwickelt wurden. Harald Haarmann versteht es, die Vielzahl der weit verstreut dokumentierten Fundstücke, ihre Orte und die atemberaubende Ästhetik der Kultgegenstände mit den eindeutig rituell motivierten Beschriftungen so zu einem Ganzen zu verweben, dass man sich diese uralte Hochkultur sehr gut vergegenwärtigen kann.

Für ihre Handelspartner bis weit in die östliche Steppe waren die Produkte Alteuropas attraktiv. Schließlich waren diese Alteuropäer die ersten, die Kupfer verhütteten und verarbeiteten. Erst als - nach einem langen Prozess des Nebeneinanders - die indoeuropäischen Steppenvölker langsam die alte Kultur des Donauraumes überlagerten und beherrschten, verschwand sie von der Oberfläche, wirkt aber, wie Haarmann zeigt, immer noch in unsere Welt hinein, zum Beispiel durch Wörter wie Aroma, Kastanie, Kirsche, Olive, Kamin, Keramik, Metall, Hymne. Gegen die aggressiven hierarchisch organisierten, nach Westen und Südwesten vordrängenden Indoeuropäer konnte sich die unkriegerische Donauzivilisation letztlich nicht behaupten.

Haarmanns Buch zeigt, dass die hergebrachte Altertumswissenschaft mit ihrer Fixierung auf die viel jüngeren Hochkulturen im Zweistromland und am Nil revidiert werden muss. Eine Kultur, die zusammen mit einer Vielzahl von Innovationen als erste eine Schrift entwickelte, kann nicht als vorgeschichtlich abgetan werden, nur weil sie keine Monumentalarchitektur hervorgebracht hat. Wie die modernste Archäologie zusammen mit der Sprach- und Kulturwissenschaft eindrucksvoll belegen, profitieren wir bis heute von den Pionierleistungen dieser spät entdeckten frühen Hochkultur Europas.

Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr

Harald Haarmann: Das Rätsel der Donauzivilisationen. Die Entdeckung der ältesten Kultur Europas
C. H. Beck, München 2011
256 Seiten, 16,95 EUR

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