Die Sittsamkeit bricht zusammen
Die Wiederentdeckung Sándor Márais ("Die Glut") brachte es mit sich, dass deutsche Verleger die ungarische Literatur mit anderen Augen sahen und neue "Ausgrabungen" tätigten. Aktuelles Beispiel dafür ist Ákos Molnár (1895-1945), dessen Werk selbst in seiner Heimat bis vor kurzem weitgehend vergessen war - zu Unrecht, wie die deutsche Erstausgabe von Molnárs Roman "Zwölf Schritte" zeigt, der im Original 1933 erschien.
Schauplatz ist das Berlin der Weimarer Republik, der Savignyplatz in Charlottenburg. Um Lokal- oder politisches Kolorit ging es Molnár indes nicht. Berlin, Wien oder Budapest - das spielt keine entscheidende Rolle, da der Roman auf eine anthropologische Grundsituation der Moderne zielt: auf den Primat des Sexuellen, das von keinen gesellschaftlichen oder moralischen Konventionen zu kontrollieren ist.
Zu Anfang ist von dieser zerstörerischen Macht wenig zu spüren: Der Erdkundelehrer Professor Tittelbach, ein Mittdreißiger, verliebt sich in Helga, die Schwester seines Schülers Egon Fryder. Diese sucht ihn in der Schule auf, um ihn - mit "Schokoladenblick" - davon zu überzeugen, bei der Beurteilung ihres Bruders Gnade vor Recht ergehen zu lassen.
Eine Mission, die alsbald zu einer Vereinigung der beiden Unterhändler führt. Hier das "erdbeerduftende Mädchen" Helga, dort der soignierte Professor - das scheint die Geburtsstunde einer idealen Verbindung zu sein, zumal sich der anfangs eifersüchtige Egon rasch an seinen Schwager in spe gewöhnt. Vollendet wird das häusliche Glück dadurch, dass Helga ihr "Dienstmädchenproblem" löst und mit der urwüchsigen Bauerntochter Grete eine famose Perle findet.
Doch der Schein trügt: Tittelbach fühlt sich zur derben Sinnlichkeit Gretes hingezogen, und seine Versuche, sich selbst zu zähmen und in die Ehe mit Helga zu flüchten, erweisen sich als hilflos. Von der Hochzeitsreise zurückgekehrt, fällt er in seine alte Leidenschaft zurück, "wie ein Nachtfalter ins Kerzenlicht", und legt eines Nachts die "zwölf Schritte" bis zu Gretes Zimmer zurück, wo ihn ein sich verzehrendes Mädchen an seinen kräftigen Busen drückt. Das Ende seiner Ehe ist eingeläutet, und Ákos Molnár inszeniert es höchst dramatisch.
"Zwölf Schritte" ist ein Roman, der sich, hat man ihn von einer feinen Staubschicht befreit, als fesselndes Kammerspiel von Liebesglut und Eifersucht erweist. Manches darin ist zeitgebunden, manches holzschnittartig (wie die Zuordnung Gretes zum sinnlich unverstellten Landleben) und manches ästhetisch unbefriedigend (wie die konventionelle auktoriale Erzählhaltung).
Ungeachtet dessen überzeugt "Zwölf Schritte", wenn sich der Untergang des bürgerlichen Paares rasant beschleunigt und deutlich wird, dass das sexuelle Verhängnis alle Akteure in Besitz nimmt - ohne Aussicht, die Abwärtsbewegung durch Vernunft oder Moral zu stoppen. So somnambul, wie Lehrer Tittelbach zu Grete eilt, so selbstverständlich bricht das Lügengebäude der Sittsamkeit zusammen. Wenige Schritte genügen.
Rezensiert von Rainer Moritz
Ákos Molnár: Zwölf Schritte
Aus dem Ungarischen von Christina Kunze.
Piper Verlag, München 2007, 315 Seiten, 19,90 Euro
Zu Anfang ist von dieser zerstörerischen Macht wenig zu spüren: Der Erdkundelehrer Professor Tittelbach, ein Mittdreißiger, verliebt sich in Helga, die Schwester seines Schülers Egon Fryder. Diese sucht ihn in der Schule auf, um ihn - mit "Schokoladenblick" - davon zu überzeugen, bei der Beurteilung ihres Bruders Gnade vor Recht ergehen zu lassen.
Eine Mission, die alsbald zu einer Vereinigung der beiden Unterhändler führt. Hier das "erdbeerduftende Mädchen" Helga, dort der soignierte Professor - das scheint die Geburtsstunde einer idealen Verbindung zu sein, zumal sich der anfangs eifersüchtige Egon rasch an seinen Schwager in spe gewöhnt. Vollendet wird das häusliche Glück dadurch, dass Helga ihr "Dienstmädchenproblem" löst und mit der urwüchsigen Bauerntochter Grete eine famose Perle findet.
Doch der Schein trügt: Tittelbach fühlt sich zur derben Sinnlichkeit Gretes hingezogen, und seine Versuche, sich selbst zu zähmen und in die Ehe mit Helga zu flüchten, erweisen sich als hilflos. Von der Hochzeitsreise zurückgekehrt, fällt er in seine alte Leidenschaft zurück, "wie ein Nachtfalter ins Kerzenlicht", und legt eines Nachts die "zwölf Schritte" bis zu Gretes Zimmer zurück, wo ihn ein sich verzehrendes Mädchen an seinen kräftigen Busen drückt. Das Ende seiner Ehe ist eingeläutet, und Ákos Molnár inszeniert es höchst dramatisch.
"Zwölf Schritte" ist ein Roman, der sich, hat man ihn von einer feinen Staubschicht befreit, als fesselndes Kammerspiel von Liebesglut und Eifersucht erweist. Manches darin ist zeitgebunden, manches holzschnittartig (wie die Zuordnung Gretes zum sinnlich unverstellten Landleben) und manches ästhetisch unbefriedigend (wie die konventionelle auktoriale Erzählhaltung).
Ungeachtet dessen überzeugt "Zwölf Schritte", wenn sich der Untergang des bürgerlichen Paares rasant beschleunigt und deutlich wird, dass das sexuelle Verhängnis alle Akteure in Besitz nimmt - ohne Aussicht, die Abwärtsbewegung durch Vernunft oder Moral zu stoppen. So somnambul, wie Lehrer Tittelbach zu Grete eilt, so selbstverständlich bricht das Lügengebäude der Sittsamkeit zusammen. Wenige Schritte genügen.
Rezensiert von Rainer Moritz
Ákos Molnár: Zwölf Schritte
Aus dem Ungarischen von Christina Kunze.
Piper Verlag, München 2007, 315 Seiten, 19,90 Euro