„Die Sinnfrage stellt sich ganz scharf heute“

Frère Alois im Gespräch mit Britta Bürger |
Durch die hohe Jugendarbeitslosigkeit stünden heute viele Jugendliche vor der Sinnfrage, sagt der Prior der ökumenischen Taizé-Gemeinschaft, Frère Alois. Deshalb sei es wichtig, das Gefühl für Solidarität zu stärken, „denn wenn wir Solidarität wirklich erleben, dann entdecken wir auch einen Sinn für unser Leben“. In Berlin treffen sich derzeit Tausende Jugendliche zum Taizé-Jugendtreffen.
Britta Bürger: 30.000 Jugendliche werden ab heute in Berlin erwartet beim europäischen Jugendtreffen der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé. Bis Neujahr werden sie gemeinsam diskutieren, singen und beten. Nachdem der legendäre Taizé-Gründer Frère Roger vor sechs Jahren während einer Andacht ermordet worden ist, leitet der in Nördlingen geborene Alois Löser den Männerorden in Taizé, eine ökumenische Gemeinschaft, der zirka 100 Brüder aus 25 Nationen angehören. Derzeit ist auch er in Berlin, und ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich Sie korrekt anspreche – schönen guten Morgen, Frère Alois! Ist das richtig?

Alois Löser: Ja, guten Morgen! Mit Frère Alois, ja, das ist ... So sprechen Sie mich richtig an. Auf Deutsch heißt das Bruder Alois, und weil wir in Frankreich leben, ist das Frère Alois.

Bürger: Von Ihrem Vorgänger, Frère Roger, weiß man, dass er den offiziellen Titel Prior gar nicht mochte. Ist das bei Ihnen ähnlich?

Löser: Ja, das stimmt, aber es braucht einen Bruder, der die Gemeinschaft animiert und ein Diener an der Gemeinschaft ist, der die Gemeinschaft zusammenhält, und diese Aufgabe habe ich jetzt nach Frère Roger übernommen.

Bürger: Das Taizé-Treffen findet in diesem Jahr zum 34. Mal statt, aber zum allerersten Mal in Berlin, eine spirituelle Veranstaltung in einer mehr oder weniger areligiösen Stadt. Wie offen sind Sie hier empfangen worden? Haben Sie ausreichend Gastfamilien gefunden?

Löser: Oh, wir sind sehr offen empfangen worden, natürlich von den Kirchen, aber auch von vielen Menschen, die ihre Tür geöffnet haben und die nicht zur Kirche gehören. Es ist natürlich nicht einfach in dieser Riesenstadt, wo so viele Veranstaltungen stattfinden, deutlich zu machen, worum es uns geht, aber wir haben sehr, sehr viele Gastfamilien gefunden und sind dankbar dafür.

Bürger: Deutlich zu machen, worum es Ihnen geht – erzählen Sie, worum geht es?

Löser: Um Solidarität, dass wir uns als Christen einsetzen für neue Formen der Solidarität, und dass wir uns auch neu die Frage stellen: Was bedeutet es, in einer Welt, wo Gott eigentlich für viele Menschen gar nicht gebraucht wird, was bedeutet es in dieser Welt heute auch, zu glauben? Was bedeutet Vertrauen auf Gott? Und dafür kommen die Jugendlichen aus ganz Europa zusammen.

Bürger: Das haben Sie unter die Überschrift „Wege des Vertrauens“ gesetzt. Das klingt noch sehr allgemein und auch, finde ich, ein bisschen nach einem wärmenden Mantel. Ist es das, was Jugendliche in Europa heute brauchen, weil ihnen von Griechenland und Spanien über Polen, Bulgarien bis nach Irland ein doch eher eiskalter Wind entgegenschlägt?

Löser: Ja, ich bin ganz sicher, dass Vertrauen heute ganz notwendig wird, dass das auch vor allem durch persönliche Beziehungen in Europa entstehen muss. Europa kann nicht wachsen, kann nicht zusammenwachsen, wenn es nicht noch mehr persönliche Beziehungen gibt. Und die Gastfreundschaft spielt dafür eine ganz, ganz große Rolle, dass wir uns nicht in Ängste abschotten in dieser schwierigen Zeit jetzt, zweifellos schwierigeren Zeit als vor 10, 20 Jahren, sondern dass wir dennoch dieses Vertrauen wagen. Das bedeutet nicht, dass wir naiv sind, aber ohne Vertrauen kann keine Gesellschaft bestehen.

Bürger: Vertrauen in was?

Löser: Vertrauen in die anderen Menschen. Vertrauen bedeutet, Misstrauen überwinden, nicht Misstrauen als letzten Maßstab nehmen, sondern einen Vertrauensvorschuss geben an die anderen Menschen, und das dort, wo wir leben, im Umkreis, wo wir leben, in unseren Familien, in unserer Nachbarschaft, in unseren Kirchengemeinden, bis hin in unser Land.

Bürger: Gerade die Jugendlichen in Europa sind extrem von der Finanzkrise betroffen. Hier ist ja eher Misstrauen als Vertrauen angebracht. In diesem Jahr haben immer wieder in vielen Großstädten junge Menschen demonstriert und campiert, sie haben die Occupy-Bewegung initiiert und vieles mehr. Welche Verbindung hat die Taizé-Bewegung zu diesen jungen Protestbewegungen?

Löser: Von Madrid habe ich Jugendliche getroffen, wo diese Protestbewegung in Europa angefangen hat, und die Jugendlichen sagten mir ganz deutlich: Es ist wichtig, dass wir zum Ausdruck bringen, dass wir Jugendlichen nicht passiv sind. Und das wollen wir ganz stark unterstützen, wir Brüder. Und die Jugendlichen sagten mir aber noch weiter: Es ist auch wichtig, dass unsere Protestbewegung friedlich weitergeht – helft uns dabei.

Und ich denke, dass auch jetzt das europäische Jugendtreffen mit so vielen Jugendlichen beides zum Ausdruck bringt, einmal, dass wir Veränderungen wollen, dass wir wollen, dass der Fortschritt für alle geteilt wird, allen zugänglich wird, nicht nur einer Gruppe, dass wir nicht wollen, dass es weiterhin noch mehr auseinanderklafft zwischen reich und arm, aber wir wollen auch gleichzeitig, dass diese Forderungen mit Frieden, friedlich gestellt werden.

Bürger: Und doch unterstützen Sie die Menschen ja eher darin, ihrem Leben einen Sinn zu geben oder auch den Sinn überhaupt zu finden, wobei die Problematik vieler Jugendlicher nicht unbedingt heute in dieser Sinnsuche besteht, sondern darin, dass sie an der Ausbildungs- und Arbeitsmarktstruktur scheitern. Was kann eine Glaubensgemeinschaft wie Ihre in Zeiten der Krise dann tatsächlich ausrichten?

Löser: Die Sinnfrage stellt sich ganz scharf heute. Sie sprechen Arbeitslosigkeit an, und das berührt auch die Sinnfrage ganz deutlich. Menschen, die arbeitslos sind, fragen sich einerseits ja, wo bekomme ich meinen Lebensunterhalt her, und andererseits aber auch – und das ist genau so scharf, diese Frage –, ja, was mache ich mit meinem Leben, welchen Sinn hat mein Leben?

Das Gespür für Solidarität in dieser Situation stärken zu wollen, ist, glaube ich, ganz wichtig, denn wenn wir Solidarität wirklich erleben, sei es in unseren Familien, in unserer Nachbarschaft, in unserer Umgebung oder auch zwischen Ländern oder in freiwilligen Diensten – ist ja erstaunlich, wie viele Jugendliche heute auch sich für freiwillige Dienste melden –, wenn wir das erleben, dann entdecken wir auch einen Sinn für unser Leben.

Bürger: Zum Beginn des diesjährigen Taizé-Treffens in Berlin sprechen wir hier im Deutschlandradio Kultur mit dem Prior der ökumenischen Gemeinschaft im französischen Taizé, dem ursprünglich aus Nördlingen stammenden Frère Alois. Sie selbst sind ja auch als sehr, sehr junger Mann in die Gemeinschaft gekommen, ihr beigetreten, Sie haben kein Priesterseminar besucht, waren damals glaube ich 19. Können Sie beschreiben, warum Sie diesen Weg dann eingeschlagen haben? Was hat Sie dazu bewogen, Ihr Leben auch so festen Regeln zu unterwerfen?

Löser: Ich bin 1970 zum ersten Mal nach Burgund, nach Taizé gefahren, mit Freunden, die mich damals mitgenommen haben, und ich war sehr schnell beeindruckt von dem Leben dort, einerseits von der Communauté, von Menschen, die sagen, wir wollen alles miteinander teilen, wir wollen das Evangelium als Gemeinschaft leben, nicht als Einzelkämpfer, sondern, indem wir Gemeinschaft, Solidarität wirklich untereinander verwirklichen.

Und dann war für mich Taizé auch die Erfahrung von Universalität: Ich konnte dort damals in den 70er-Jahren schon mit Afrikanern, mit Vietnamesen, mit Lateinamerikanern diskutieren. Das hat mich sehr beeindruckt, zu erfahren, dass Kirche eine universelle Gemeinschaft ist. Und dann bin ich öfter hingekommen, dort nach Taizé, dann für ein Jahr, 1973 habe ich dort mitgeholfen bei den Jugendtreffen, und dann habe ich mich entschieden, für das ganze Leben dort zu bleiben.

Bürger: Welche Rolle spielt dieser interreligiöse, auch der multikulturelle Aspekt, den Sie gerade angesprochen haben, jetzt auch beim Taizé-Treffen in Berlin? Wie offen sind diese Veranstaltungen, etwa auch für Muslime und Juden?

Löser: Ja, zunächst ist es einmal wichtig, dass Christen aus verschiedenen Kirchen zusammenkommen und dass wir damit Ernst machen wollen, dass uns als Christen mehr verbindet als uns trennt, und dass wir das auch sichtbar zum Ausdruck bringen wollen durch dieses Treffen. Und daneben ist es natürlich auch ganz wichtig, dass es auch Besuche und Begegnungen gibt bei Juden und bei Muslimen hier in Berlin. Es gibt ein Gespräch mit einer Rabbinerin und einem Bruder über einen Bibeltext, und dann eine Begegnung mit Vertretern der Jüdischen Gemeinde, und es gibt ein Treffen in einer Synagoge, wo Jugendliche auch eingeladen sind, die das Leben der Muslime hier in Berlin kennenlernen wollen.

Bürger: Sie selbst sind ja Katholik, während der Taizé-Gründer Frère Roger Protestant war. In welchen Punkten entwickelt sich die ökumenische Bewegung denn derzeit weiter, wo sehen Sie da selbst Fortschritte als Katholik mit Blick zum Beispiel auf die Problematik des gemeinsamen Abendmahls?

Löser: Ja, wenn wir uns nur an dem festmachen, was noch nicht möglich ist, dann kommen wir, glaube ich, nicht weiter. Es ist ganz wichtig, dass wir das, was gemeinsam möglich ist, wirklich schon praktizieren. In Taizé kommen wir drei Mal am Tag zu einem gemeinsamen Gebet zusammen, und das unter Protestanten, Katholiken und oft auch orthodoxen Christen, die uns besuchen, und ich denke, wenn wir auf dieser Ebene noch weitermachen, lernen wir einfach, dass wir zusammengehören, dass wir zueinander gehören. Und ohne diese Erfahrung werden wir auch an den schwierigen theologischen Fragen, die offen sind, nicht weiter arbeiten können.

Bürger: Was ist für Sie die wichtigste, nicht gelöste Frage?

Löser: Ich glaube, die wichtigste Frage ist, dass wir zu wenig ein Wort von Jesus ernst nehmen, nämlich, dass wir nur seine Liebe, seine Botschaft weitergeben können, wenn wir eins sind. Wenn wir dieses Wort ernster nehmen würden, würden wir auch Wege finden zu einer sichtbaren Einheit hin.

Bürger: Heute beginnt in Berlin das diesjährige Taizé-Treffen, aus dem französischen Burgund ist dazu auch der Prior des Männerordens angereist, Frère Alois. Herzlichen Dank für das Gespräch!

Löser: Bitte schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jugendliche auf einem Treffen in der Communauté de Taizé
Jugendliche auf einem Treffen in der Communauté de Taizé© promo / Communauté de Taizé
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