Die singende Gemeinde

Von Heike Schwarzer |
Die Geschichte des Kirchenchors Lößnitz reicht bis Jahr 1646 zurück. Damals fanden sich einige sangesfreudige Männer zusammen, um die Kirchenmusik der Gemeinde neu zu beleben. Mittlerweile sind 40 Männer und Frauen in dem Laienchor aktiv. Für sie ist das Singen ein fester Bestandteil des Gemeindelebens geworden.
St. Johannis ist unübersehbar: ein monumentales Stück Wien mitten im Erzgebirge, ein prachtvoller klassizistischer Kirchenbau. Nach mehreren Stadtbränden wurde 1826 - unweit vom Marktplatz - die evangelisch-lutherische Kirche in Lößnitz wieder aufgebaut. Sie gilt als einer der schönsten Sakralbauten der Region.

Und: Seit fast 60 Jahren spielt in der Turmlaterne eines der ältesten, noch funktionstüchtigen Bronze-Glockenspiele Deutschlands. Viermal am Tag. Das letzte Mal 20.37 Uhr.

Zu dieser Zeit – immer freitags – sitzt Sopran Christine Kretzschmar längst gegenüber im Gemeindehaus. Sie ist 62 Jahre alt und singt ihr halbes Leben im Lößnitzer Kirchenchor.

"Das gehört einfach zum Freitag – wenn das ausfällt, da sagen wir, was machen wir denn heute Abend. Es fehlt einfach."

Zwischen den Sopranstimmen sitzt auch Sophie Ullmann, 26 Jahre alt.

"Der erste Ton ist schon immer was Tolles – da hat man das, was dann noch kommt, noch im Kopf. Was ich toll finde, das ist das gemeinsame Schaffen von etwas, man hat am Anfang noch keine Vorstellung, da ist manchmal auch Skepsis dabei, aber wenn dann wirklich mit Eifer geübt wird, dann entwickelt sich meist was ganz Tolles."

Große Werke, Oratorien, die mag sie am liebsten.

"Ja. Was Großes – mit Orchester."

Die Proben des Kirchenchores beginnen um acht immer mit der Losung und dem Lehrtext des Tages. Und einem Gebet. 40 Mitglieder zählt der Kirchenchor Lößnitz, den Kantor Jens Staude leitet.

"Es gibt bei mir kein Vorsingen und ich habe es eigentlich auch noch nicht erlebt, dass ich jemanden weggeschickt habe. Natürlich sind die Begabungen unterschiedlich. Aber es geht hier um einen Gemeindechor. Und singende Gemeinde darzustellen, da drückt man doch manchmal ein Auge zu. Oder ein Ohr."

Es singen Männer und Frauen, zwischen 20 und 70 Jahren, alle sind Gemeindemitglieder. Seit Generationen schon. Oder, wie Gregori Bauer, erst seit sechs Jahren.

"Ich komme aus Bundesstaat Ohio in Amerika, bin 34 Jahre alt und die Liebe hat mich hergebracht. Ich habe eine Verlobte in Lößnitz. Ich wollte nur ein Jahr bleiben, aber es gefällt mir hier so. Jetzt, sechs Jahre ist es schon her, dass ich hier bin."

"Mein Vater leitet unseren Chor in Amerika, und es war eine Selbstverständlichkeit, dass ich auch hier singe. Bin auch sofort aufgenommen worden, freundlich und richtig Familiengefühl ist dabei. Also wunderbar."

Der Maschinenbauer und passionierte Hobbymusiker liebt die Herausforderungen im Lößnitzer Kirchenchor. Die unterschiedlichen Werke aus verschiedenen Epochen, die Schönheit und Komplexität der Kirchenmusik: der alten von Bach und Schütz, der neuen von Britten und Mauersberger oder der zu Unrecht vergessenen aus der reichen Musiktradition des Erzgebirges.

"Das ganze Kulturerbe von der Musik, das ist auf so einem ganz engen Raum hier. Das ist schon beeindruckend die Entwicklungen – besonders hier in Europa, das kann man nicht mit Amerika vergleichen. Das geht Jahrtausende zurück."

Antonio Salieri wird geprobt an diesem Freitagabend, das Requiem, dazu noch in lateinischer Sprache – nicht eben ein Standartprogramm für einen Laienchor.

Jens Staude ist ein Vollblut-Kirchenmusiker, Kantor und Organist in Lößnitz seit über 20 Jahren.

"Nach dem Zweiten Weltkrieg bin ich derjenige, der am längsten in diesem Amt in der Kirchgemeinde ist."
Und hier will er alt werden, sagt der 49-Jährige, der in der Lößnitzer Gemeinde ein kirchenmusikalisches Großunternehmen führt: vier Kinderchorgruppen mit Flötenkreisen, einen Posaunenchor, Instrumentalkreis, Jugendchor und zwei Kirchenchöre. Mindestens einmal im Monat gestaltet er neben Konzerten, Festen und Motetten einen musikalischen Gottesdienst.

"Ein Chor wächst auch als Gemeinschaft zusammen und das ist eine zentrale Aufgabe, dass wir als Gemeindechor auch von unserem christlichen Glauben her eine Gemeinschaft bilden. Und die widerspiegelt sich im Chor in besonderer Weise."

Jens Staude nimmt sich die Freiheit, wählt Musik für jede Generation und jeden Geschmack: für den Gottesdienst, kleine einfache Liedsätze oder Motetten, aber auch doppelchörigen und A-Capella-Gesang. Neben klassischer Kirchenliteratur wagt er immer wieder Neues.

Die Konzerte sind Höhepunkt für die Gemeinde und für die Stadt. Zwei- bis dreimal im Jahr lädt der Kirchenchor dazu ein und dann strömen die Musikfreunde nach Lößnitz. Christine Kretschmar:

"Viele, die fragen, wann macht ihr wieder mal was großes, dann lade ich auch wieder vom Westen die Cousinen und alle ein, die sind dann ganz begeistert von unserem Chor und man ist dann richtig beseelt davon. Weil die Kirche auch so einen schönen Klang hat und hoch gebaut ist, mit Gewölbe, dadurch klingt das wunderbar. Der letzte Ton hat eine besondere Kraft, zum Schluss, wenn das dann noch so im Raum steht. Da hallt das so nach … da denkt man, jetzt hat man wieder was geschafft. Zusammen."