Die Shoa, die Dämonen und eine ganz normale verrückte Familie

15.03.2011
40 Jahre wurde die Wohnung der Eltern nicht ausgemistet. Nach ihrem Tod kommen nicht nur rührende Briefe und uralte Fotos ans Licht, sondern auch jede Menge turbulente Familiengeheimnisse.
Vielleicht sind die Dibbuks schuld, die Seelen der Toten, die sich auf an die Lebenden klammern und sie in heillose Unruhe versetzen können. Isaac B. Singer hat diesen Dämonen der jiddischen Mystik einige Erzählungen gewidmet. Für ihn, schreibt Adriana Altaras hoffnungsfroh, sind sie "die besten Gesprächspartner. Na prima. Ich bin in bester Gesellschaft."

Leider hilft das so wenig gegen Schlaf- und Ruhelosigkeit wie heiße Milch mit Honig. Die Shoah hat auch die Zahl potenzieller Dämonen ins Unermessliche gesteigert. Und wenn man 1960 als Tochter zweier aus Nazi-Lagern entkommener Tito-Partisanen in Zagreb geboren ist und erlebt, dass Heldentaten und kommunistische Glut nicht vor "Säuberungen" schützen, dann liegt die Erkenntnis nahe: "Ich bin stolze Besitzerin mehrerer Dibbuks, eigentlich schon immer."

Nur dass sich leider im heutigen Berlin kein Wunder-Zaddik findet, der sie vertreiben könnte. Also geht die Berliner Theatermacherin und Filmschauspielerin Adriana Altaras persönlich mit den Quälgeistern ins Gericht. "Titos Brille" heißt ihr autobiographischer Roman, Untertitel: "Die Geschichte meiner strapaziösen Familie."

Mit vier Jahren wird Adriana Altaras aus Jugoslawien herausgeschmuggelt – von Tante Jelka, die die Shoah nach Italien und in die betrübliche Ehe mit ihrem katholischen Lebensretter verschlagen hat. Kaum hat sie sich eingelebt, holen die mittlerweile emigrierten Eltern sie nach Deutschland und schicken sie in ein Waldorf-Internat.

Adriana pendelt zwischen Gießen und Mantua, zwischen italienischer Schönheit und deutscher Provinz. Später erweitert sie ihren Radius auf die halbe Welt, probiert immer neue Heimaten aus und landet zuletzt jedes Mal wieder in Berlin. Im Alter von 44 Jahren findet sie sich plötzlich als "Vollwaise" vor dem "Nachlass" des Lebens ihrer Eltern wieder: Es ist ein Chaos aus Fotos, Briefen, Dokumenten, komischen kommunistisch-kapitalistischen Zickenkriegen (Mutter und Tante), bürokratischen bis unverhohlen antisemitischen Grausamkeiten (geklautes Vermögen, entweihte Gräber) und allerlei dunklen Familiengeheimnissen.

Adriana Altaras erzählt die Geschichte ihrer Familie – inklusive der nächtlichen dibbukischen Einflüsterungen – vor dem Hintergrund ihres eigenen Lebens – als Jüdin mit einem "westfälisch-gojischen" Mann und zwei Söhnen, als Teil des ach so toleranten deutschen Kulturbetriebs, der zwei "echte Juden in einer gojischen Filmkomödie über Juden als störend empfindet – und der enttäuscht ist, wenn sie am Theater einmal nicht mit "jüdischen Hast" inszeniert.

Adriana Altara hat eine berstende Lust am Beobachten, Reflektieren, Pöbeln, Spotten. Herausgekommen ist dabei die Geschichte einer ebenso strapazierten wie strapaziösen Familie über die ganze Welt versprengter Juden, ganz ohne Gefühligkeitskitsch.

Besprochen von Pieke Biermann

Adriana Altaras: Titos Brille - Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011
272 Seiten, 18,95 Euro