Die Selbstfesselung

Von Paul-Hermann Gruner |
Der Begriff des politisch Korrekten kam 1793 in die Welt. Und zwar in einem Gerichtsverfahren in den Vereinigten Staaten. Stolze 200 Jahre hat die Begrifflichkeit selbst und die Schleppe seiner ideologischen Folgen benötigt, um über den Atlantik zu kommen. Inzwischen sind das Schlagwort und eine dazu passend geschnitzte Geisteshaltung in Europa gut verbreitet. Leider entwerten sie inzwischen auch die Identität eines pluralen, aufgeklärten demokratischen Rechtsstaates.
Angefangen hat es mit der sprachpolizeilichen Selbstfesselung. Politisch korrekte Sprache kann in der Regel Genus und Sexus, also grammatisches und natürliches Geschlecht, nicht auseinanderhalten. So bezeichnete die Feministin Hannelore Mabry nichtfeministische Frauen einst auch als Arschlöcherinnen. Viele wollen die Welt seitdem mit Sprache verbessern.

Billiger Antidiskriminierungseifer ersetzte auf diese Weise zum Beispiel das Attest „geistig behindert“ durch „anders begabt“ und die Diagnose „blind“ durch „visuell herausgefordert“. Mitunter wähnt man sich eher in einer Comedy-Show als im realen Diskurs. Es wirkt also eine Sprachpolizei, die einfache Wahrheiten verschleiert oder kosmetisch verändern will. Damit sind wir schon mitten drin im Übergang von der Sprach- zur Denkpolizei. Und die arbeitet mit Einschüchterung statt mit Vernunft.

Inzwischen hört die demokratische Gemeinschaft gerne auf die Handlungspolizei. Eine Art Weiterentwicklung des Opportunitätsprinzips. Wenn Ralph Giordano Ablehnendes anmerkt über den Bau einer Großmoschee in Köln, muss er sich in zig Interviews rechtfertigen, dass er dies sagen könne – geradezu müssen dürfe –, obwohl er keiner rechtsnationalen Partei angehöre. Ein typischer Fall, denn das Thema des islamischen Glaubensauftritts in Deutschland ist ebenso interessant und diskursreif wie das Thema Jugendkriminalität und Migration, das gerade dann angemessen zu thematisieren ist, wenn man Integration leben will. Ohne Diagnose keine Therapie.

Aber die Hegemonie des politisch Korrekten zieht immer öfter um attraktive Felder der geistigen Auseinandersetzung ein rotweißrotes Flatterband und erklärt sie im Folgenden zum Tabu. So endet der Kreuzzug für Anstand in Mundverboten und Stillstand. Auszusprechen, was ist, gilt gegenüber schwierigen, hypersensiblen oder gewaltbereiten Gruppen gar als peinlich und aufrührerisch.

Nun zeigt der Niederländer Geert Wilders ein einfaches 16-Minuten-Filmchen, das ohne Zweifel ein schneidig-sarkastisches Bild vom Islam zeichnet, verkürzend und karikierend. Und es regnet Kritik von allen Seiten. Aber Wilders erdreistet sich nichts Fiktionales, sondern montiert Bilder aus Nachrichtensendungen und dokumentiert einfach mal, wie Hände abgehackt oder Homosexuelle öffentlich gehängt werden. Wenn eine solche Kritik des gelebten Islam in unseren Demokratien nur noch unter strafandrohenden Protesten möglich ist, dann klopft die Selbstfesselung der künstlerischen Freiheit, der intellektuellen Rauflust im Namen der Aufklärung und im Gedenken an die Menschen, die für diesen religiösen Extremismus geopfert werden, an der Tür. Ganz egal, wie ästhetisch simpel oder schlecht das Filmchen nun ist – es darf sein.

Die Handlungspolizei des politisch Korrekten lässt den Europäern auch wenig Raum für klare Haltungen gegenüber dem, was da euphemistisch „Tibet-Politik“ Chinas heißt. Im Klartext: Das wehrlose Land wurde im Oktober 1950 militärisch vom kommunistisch gewordenen China überrannt und besetzt und ist seitdem okkupiert. Punkt. Nein das darf man so nicht sagen, man könnte ja sonst 25 Kilometer weniger Transrapid an Peking verkaufen.

Die Ukraine will in die NATO und in die Europäische Union. Außenminister Steinmeier verzieht das Gesicht. Das könne man Russland nicht auch noch zumuten. Putin zu verärgern sei nicht klug, und der Nachfolger sollte bitte auch nicht gleich provoziert werden. Mit Verlaub: Was sind das für Maximen? Steht dies für berechenbare, unaufgeregte Prinzipientreue gegenüber den Werten der demokratischen Identität? Hat das mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker was zu tun? Leider nicht.

Die Humanitas ist unteilbar! möchte man zusammen mit Ralph Giordano ausrufen. Als Mahnung. Wenn ein Apfelverkäufer seine besten Früchte so anpreisen würde wie die demokratische Welt ihre Grundverfasstheit, würde die Kundschaft sich wegdrehen und zur Birne greifen.

Paul-Hermann Gruner, geboren 1959, ist Politikwissenschaftler und Historiker. Seit Beginn der achtziger Jahre tätig als bildender Künstler mit den Schwerpunkten Montage, Installation und Performance. Seit 1996 in der Redaktion des „Darmstaedter Echo“, daneben Veröffentlichungen in regionalen und überregionalen Zeitungen, satirische Texte, Buchpublikationen unter anderem zu Sprachpolitik und Zeitgeistkritik.
Paul-Hermann Gruner
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