Die Sehnsucht nach Geschichte

22.12.2010
Schlösser sind selten geworden in Deutschland, also baut man sie neu - als Einkaufszentren, Volksvertreter-Paläste und Museumsschätze. Christian Welzbacher fragt, warum Historisches in Deutschland solche Konjunktur hat.
Republik hin oder her, Schlösser scheinen recht begehrt in Deutschland. Weil sie jedoch leider selten geworden, werden sie eben neu errichtet. Und weil zudem der königliche Bewohner fehlt, werden sie zum Palast des Konsums, vulgo Einkaufszentrum, wie in Braunschweig, zum Palast der Volksvertreter wie wohl bald in Potsdam oder zum Palast der Museumsschätze wie möglicherweise in Berlin. Den Palästen zur Seite treten Bauten wie die rekonstruierte Frauenkirche in Dresden. Warum hat Historisches in Deutschland solche Konjunktur, fragt Christian Welzbacher in seinem schmalen Buch "Durchs wilde Rekonstruktistan" mit Sympathien für eine interpretierende Rekonstruktion, die Zerstörtes erkennen lässt.

Der dreiteilige, auf journalistischen und Fachaufsätzen des Kunsthistorikers beruhende Essay zeigt zunächst in einem Parforceritt durch die Architektur- und Kunstgeschichte, dass die Sehnsucht nach Geschichte nicht neu ist. Doch anders als in Asien, wo man das Alte durch den kompletten Neubau erhält, gelte die Rekonstruktion in Europa stets als Notlösung. Die Würde des Originals erreiche der Neubau niemals. "Ortsverschiebung, freie Interpretation, Zweckentfremdung, Umwertung, Instrumentalisierung" sind nach Welzbacher übliche, stets mit einem Hautgout belastete Formen des Umgangs mit Altem – was allerdings, dieser Widerspruch bleibt unaufgeklärt, niemanden an eben diesem Umgang mit dem Alten zu hindern scheint. Sonst hätte Welzbacher nicht so zahlreiche, gut illustrierte Fälle anführen können.

Mit kräftigem Strich zeichnet der Kunsthistoriker im zweiten Teil nach, wie der Wiederaufbau des zerstörten Goethe-Geburtshauses in Frankfurt am Main von einer kommunalen zu einer abendländisch-europäischen Angelegenheit, schließlich zu einem Schauplatz des Kalten Krieges (Goethes Haus in Weimar – in der sowjetisch besetzten Zone!) hochgestemmt wurde. Das anfängliche Plädoyer für die Betrachtung jeder Rekonstruktion als Einzelfall hindert Welzbacher nicht – auch dies ein Widerspruch in seiner Gedankenführung –, sich am Schluss des Kapitels eine Systematik der Wiederaufbaumodi und der möglichen Argumente zu wünschen, damit das Für und Wider nicht jedes Mal von vorn beginne.

Abschließend nennt Welzbacher den "Wiederaufbau in historischer Form (..) das Luxusproblem einer lautstarken Minderheit", gesteht jedoch erstaunlicherweise zu, dass das "Branding mit Geschichte" erfolgreich sei, weil es die Sehnsucht nach einer früheren, besseren Welt befriedige. Solche Inkonsistenzen stören Welzbacher wenig, ihn ekelt es offenbar zunehmend: Die "neue Altgier" sei nicht zufällig "im Zeitalter der Popularisierung und Ironisierung sämtlicher Diskurse" entstanden, in "der Ära von Spaßkultur, Loveparade, Fusion-Food, Revival und Bad taste". Ursächlich sei der traumatische "Verlust der Mitte" durch die "Zäsuren der Aufklärung und den doppelten Zivilisationsbruch der Weltkriege".

So ungenau – bis dato galt der Judenmord der Nazis als Zivilisationsbruch – hatte man es eigentlich nicht wissen wollen. Der Zeitdiagnostiker Christian Welzbacher scheint ein wenig überfordert. Von der Erschütterung des Originalitätsgedankens durch den Aufstieg der Kopie im 20. Jahrhundert weiß er nichts, und die Kritik des "Feuilletongeplauders" mutet bei einem Autor des Feuilletons seltsam an. Christian Welzbacher hat ein wichtiges Thema erkannt und verschenkt es.

Besprochen von Jörg Plath

Christian Welzbacher: Durchs wilde Rekonstruktistan. Über gebaute Geschichtsbilder
Parthas, Berlin 2010
100 Seiten, 12,90 Euro