Die Sehnsucht ist nicht zu fassen

01.07.2011
Stück für Stück setzt "Hobalala" das Mosaik einer exzentrischen Musikerpersönlichkeit zusammen. Joao Gilberto gewinnt in Marc Fischers Charakterisierung einen diabolischen Zauber. Durch Fischers Selbstmord im April 2011 wird es zu einer Art literarischem Vermächtnis.
2010 macht sich der Journalist Marc Fischer auf den Weg nach Rio de Janeiro. Fünf Wochen lang versucht er dort, die große Legende der Bossa Nova zu treffen: Joao Gilberto. Fischer will das Geheimnis von Gilbertos Musik verstehen, zu dessen Innerstem vordringen. Gilbertos sanfte Stimme und sein schwebendes, aber punktgenaues Gitarrenspiel verkörpern - nicht nur für ihn - den magischen Kern der Bossa Nova.

Seit Fischer vor Jahren den Song "Hobalala" gehört hat, ist er von diesem Klang infiziert. "Hobalala" ist einer der wenigen Titel, die Joao Gilberto selbst geschrieben hat, er erschien 1959 auf dem ersten Album "Chega de Saudade" – "Schluss mit der Sehnsucht". Der Albumtitel und dieser eine Song "Hobalala" spiegeln die Dramaturgie eines ungewöhnlichen Musiker-Porträts. Es erzählt in sehr persönlichem, fast plauderhaften Ton mindestens eben so viel über seinen Verfasser wie über Joao Gilberto. Marc Fischer will seine "Bossa-Sehnsucht" durch eine Begegnung mit Gilberto stillen.

Abenteuerlustig und fast "sportlich" geht er sein Projekt in Rio an: assistiert von der Übersetzerin Rachel, die er "Watson" nennt, stilisiert er sich zunächst wie in einer lustigen Detektivgeschichte als "Sherlock Holmes", der sich sein Objekt der Begierde früher oder später schon "holen" wird.

Nur einer spielt leider nicht mit: Joao Gilberto. Der heute Achtzigjährige, ein "seltsamer alter Mann mit einer ziemlich großen Brille", lebt seit drei Jahrzehnten abgeschottet von der Welt in einem Apartmenthaus von Rio. Tagsüber schläft er, nachts spielt er stundenlang Gitarre, ganz selten und nur nachts verlässt er die Wohnung. Kontakt zur Außenwelt hält Gilberto, bis auf wenige Ausnahmen, nur über das Telefon.

Marc Fischer gelingt es, durch gute Kontakte und die Bemühungen seiner Übersetzerin, in den innersten Kreis Gilbertos vorzudringen. Er trifft Musiker und einstige Weggefährten wie Roberto Menescal, er trifft den langjährigen Impresario und Manager, der Gilberto wie ein Sklave Tag und Nacht zu Diensten ist, und er begegnet sowohl Miucha, der Mutter von Gilbertos Tochter Bebel, als auch der Journalistin Claudia Faissol, mit der Gilberto ein heute siebenjähriges Kind hat. Schließlich reist er an einen Ort, der vor Jahrzehnten eine zentrale Rolle in Gilbertos Leben gespielt hat und einen Wendepunkt in seiner Karriere bedeutete.

Stück für Stück setzt sich so das Mosaik einer Musikerpersönlichkeit zusammen, die in Fischers Charakterisierung etwas von einer dunklen Macht, einen diabolischen Zauber gewinnt: Gilberto lässt in dieser Sichtweise jeden, der sich ihm nähern möchte, verändert, oft sogar beschädigt zurück. Aber es werden auch ganz handfeste Gründe genannt, die umgekehrt dem Exzentriker und Misanthrop Gilberto das "Genick gebrochen haben", wie seine Ex-Freundin Claudia Faissol das formuliert. Gilbertos frühere Plattenfirma EMI hat die ersten drei Alben in gekürzter Länge und mit veränderter Modulation auf den Markt gebracht - etwas, das den Künstler so traf, als hätte "jemand in Michelangelos Bildern herumgekritzelt".

Am Ende des Buchs fragt Fischer seine Dolmetscherin: "Warum haben wir ihn nicht gefasst, Watson? Wir haben doch alles versucht!" - "Weil die Sehnsucht nicht zu fassen ist, Sherlock, von niemandem. Und Joao ist die Sehnsucht selbst." Resigniert kehrt Marc Fischer zurück nach Berlin, wo "nichts mehr so ist, wie es vorher war" - die Anspielung auf die Beziehung zu einer Frau, die während seiner Rio-Wochen zu Ende gegangen ist.

Es fällt schwer, den nachhallenden Eindruck dieses Buchs von Marc Fischers persönlichem Schicksal trennen. Er nahm sich im April 2011 das Leben. "Hobalala" ist eine Art literarisches Vermächtnis.

Besprochen von Olga Hochweis

Marc Fischer: Hobalala - Auf der Suche nach Joao Gilberto,
Rogner und Bernhard Verlag, Berlin 2011
197 Seiten, 17,90 Euro