"Die Schweiz ist kein deutsches Bundesland"

Moderation: Jürgen König · 04.06.2008
Der Schweizer Journalist und Buchautor Bruno Ziauddin empfiehlt den Deutschen, sich nicht über das Schweizerdeutsch lustig zu machen. Wer anlässlich der Fußball-EM das Land besuche, habe dann schon viel gewonnen. Die Eidgenossen seien im Übrigen loyal, höflich und von japanischer Freundlichkeit, sagt Ziauddin.
Jürgen König: In Zürich, einem Studio des Schweizer Radios "DRS" begrüße ich den Journalisten Bruno Ziauddin. Er hat gerade ein Buch veröffentlicht, "Grüezi Gummihälse - Warum uns die Deutschen manchmal auf die Nerven gehen". Eine Zusammenfassung wurde am Wochenende in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" veröffentlicht. Vielleicht haben Sie es gelesen. Wir wollen den Spieß mit ihm nun umdrehen. Er soll uns zu Beginn der EM doch mal erklären, wie die Schweizer so ticken. Herr Ziauddin, guten Tag!

Bruno Ziauddin: Guten Tag!

König: "Grüezi Gummihälse" In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie die Schweizer die Deutschen sehen. Sie schreiben, die deutschen Assistenzärzte, die in der Schweiz arbeiten, die würden von den Einheimischen Gummihälse genannt, weil sie immer nicken, wenn der Chefarzt spricht. Was machen denn Schweizer Assistenzärzte, wenn sie etwas werden wollen?

Ziauddin: Ich glaube tatsächlich, dass man in unseren Spitälern, wie wir sagen, oder, wie man in Deutschland sagt, Krankenhäusern die Hierarchien viel flacher sind. Das ist zum Beispiel so, dass bei uns Krankenschwestern vielerorts auch einen Oberarzt duzen. Und ich habe mir sagen lassen, dass das in den meisten deutschen Krankenhäusern undenkbar wäre.

König: Das glaube ich auch.

Ziauddin: Das heißt, ich glaube, die Assistenzärzte, die sagen, schnell mal ihre Meinung. Ich habe auch mit einem Schweizer Chefarzt gesprochen, der mit einer Hannoveranerin verheiratet ist. Und der hat gesagt, meine jungen Schweizer Ärzte, die führe ich mit Enthusiasmus und Begeisterung. Wenn ich das aber mit den deutschen Assistenzärzten mache, dann fangen die an, mir auf der Nase herumzutanzen. Da muss ich die strenge Hand zur Hilfe nehmen.

König: Wir haben eben eine Umfrage gehört, die wir in Berlin durchgeführt haben. Da wurden die Schweizer als arbeitsam, relaxt, als, wenn ich das so zitieren darf, lahmarschig, aber nicht unsympathisch tituliert. Was sagen Sie dazu?

Ziauddin: Sie haben ja zwei Sachen zensuriert. Das eine war Fußball, das hat mich natürlich fasziniert, dass jemandem in Deutschland beim Stichwort Schweiz Fußball in den Sinn kommt. Zur Lahmarschigkeit, ich glaube, dass das bei uns tatsächlich nicht so hektisch zu- und hergeht, alles in allem, dass wir voran eine bedächtigere Kommunikationskultur haben. Wie mir aber ein deutscher Theaterregisseur, der viele Jahre in der Schweiz gearbeitet hat, versichert hat, ist dann nicht unbedingt so, dass am Schluss, dass es länger dauert, bis etwas Vernünftiges dabei herauskommt.

König: In Ihrem Buch ist sehr schön nachzulesen, wie freundlich die Schweizer miteinander umgehen, wo Sie sagen bedächtigere Kommunikationskultur. Seien Sie doch bitte so gut, Herr Ziauddin, wenn ich diese Aufgabe an Sie herantragen darf, führen Sie uns doch einmal vor, wie ein Verkaufsgespräch, sagen wir, zum Beispiel in einer Bäckerei verläuft.

Ziauddin: Nun gut, erstens sagen sich wirklich beide Parteien "Grüezi" oder "Guat Tag". Und dann sagt die Verkäuferin auch "Guten Tag". Und dann fragt die Verkäuferin, was darf es denn sein. Und dann sagt man, ich hätte bitte gerne zwei Weckli und ein Kipferli. Wie heißt das bei euch? Schrippen und Croissants oder irgend so was. Und dann sagt die Verkäuferin, darf es sonst noch etwas sein. Und dann sagt man, nein, danke, das ist alles. Und dann sagt die Verkäuferin, das kostet dann drei Franken 40, wenn ich bitten darf. Und dann gibt man das Geld und bedankt sich für die Brötchen, und dann bedankt sich die Verkäuferin fürs Geld. Und dann sagt man noch etwa dreimal "Wiederseh, vielen Dank, auch dir guaten Tag", auf Wiedersehen, Adieu usw.

König: Und wenn dann in der Schlange hinter einem ein Deutscher steht, ist das schrecklich?

Ziauddin: In diesem Fall, da muss man ja zugeben, ist das vor allem für den Deutschen dann schrecklich, weil das wirklich befremdlich ist. Zum Teil gibt es ein klassisches Missverständnis, dass ein Deutscher, der arglos und eigentlich ein netter Mensch ist, sagt, ich krieg zwei Brötchen. Das ist für uns wirklich brüskierend in unseren Ohren, wenn jemand so etwas sagt. Das tönt ungehobelt und eben dann schnell heißt es halt typisch Deutscher. Dabei hat er sich gar nichts Böses dabei gedacht.

König: Sie haben in Ihrem Buch sehr schön die Deutschen beschrieben, neben auch die Schweizer natürlich auch mit, auch mit wunderbaren Anflügen der Selbstironie. Wie sieht denn Ihre Typologie der Schweizer aus?

Ziauddin: Gute Frage. Ich denke, jetzt gerade im Hinblick vielleicht auf die EM, wo wir wieder von deutschen Touristen dann, ich sage jetzt nicht heimgesucht, aber ein anderes Wort fällt mir gerade nicht ein, werden.

König: Sie meinen, genau das schon, nicht?

Ziauddin: Nein, Sie wissen ja, wir Schweizer sind latent sprachbehindert, und dann gerade auf Hochdeutsch kommt auch nicht immer gerade das treffende Wort dann dabei heraus. Es gibt schon zum Beispiel so einen, sagen wir, Grummelschweizer. Wir sind tatsächlich, glaube ich, keine perfekte Gastgebernation im Sinne von, dass wir totale Gastfreundlichkeit ausstrahlen. Wir sind eher ja auch ein zurückhaltendes Volk. Und es gibt so Schweizer, die haben etwas Grummeliges an sich, die fühlen sich schnell ein wenig bedroht durch alles, was von außen kommt. Das darf man dann nicht zu ernst nehmen, weil der Schweizer ist einfach ein vorsichtiges Wesen, wo es etwas länger dauert, bis man es von etwas überzeugen kann. Wenn man ihn aber dann überzeugt hat, dass man hier nichts Böses will usw., dann kann er durchaus auch ein loyaler und verlässlicher Freund und Kollege sein.

Dann gibt es natürlich vor allem Solid-Schweizer. Das sind so die Leute, die Mitte bis Rechts wählen, die aber auch so einen ausgeprägten Bürgersinn haben. Ich glaube, der ist bei uns, ich kenne mich auch nicht so aus in Deutschland, aber wirklich ausgeprägter als dort. Die arbeiten dann in der Freiwilligen Feuerwehr mit oder in der Sozialpflege etc., etc. Diese Leute sind auch, glaube ich, wirklich individualistischer als in Deutschland. Das ist, glaube ich, kein Klischee. Wir sind auch nicht sehr staatsgläubig. Das ist etwas, was man den Deutschen ja zum Teil nachsagt, obwohl ja bei uns eigentlich der Staat sehr gut funktioniert. Ja, zurückhaltend, individualistisch irgendwie, freundlich, höflich. Man könnte schon fast sagen von einer japanischen Freundlichkeit.

König: Der Solid-Schweizer, über den Sie jetzt noch sprechen?

Ziauddin: Genau.

König: Wenn man das, was Sie sagen, anwendet auf den deutschen Touristen, der sich jetzt anheischig macht, die Schweiz zur Fußballeuropameisterschaft zu besuchen. Welche Grundkenntnisse, welche Grundregeln der Schweizer Gesellschaft sollte er kennen und beachten?

Ziauddin: Das Wichtigste ist etwas sehr Banales. Die Schweiz ist kein deutsches Bundesland, sondern ein eigener Staat. Und es gibt gerade Deutsche, die sich hier niederlassen, die am Anfang auch manchmal arglos diesem Irrtum verfallen, dass die Schweiz sehr ähnlich sei wie Deutschland. Natürlich gibt es ganz viele Gemeinsamkeiten, aber sie ist trotzdem ein eigenes Land mit eigener Geschichte, eigener Sprache, eigener Kultur. Und wenn man das beachtet, sich wirklich so benimmt, wie man sich im Ausland benehmen sollte, mit einer gewissen Zurückhaltung, dann hat man schon viel gewonnen. Das Zweite ist, dass die Schweiz ja ein ziemliches disparates Land ist und etwas von wenigem mindestens, dass uns Deutschschweizer zusammenhält, ist schon dieses eigenartige Schweizerdeutsch. Es ist für uns viel, viel mehr als irgendwie ein Dialekt in der Pfalz oder im Allgäu oder so. Sich nicht über das Schweizerdeutsche lustig zu machen, dann hat man auch schon viele Fettnäpfe umschifft.

König: Sie sagen, was uns Deutschschweizer zusammenhält. Die Schweiz besteht ja aus mehreren Kulturen. Kann man eigentlich überhaupt von einem Land sprechen?

Ziauddin: Ja und nein. Das ist eine alte Frage in der Schweiz. Die Schweiz gilt ja sogenannt als Willensnation. Und ein älterer Publizist hat mal ohne Scheu vor schwieriger Metaphorik gesagt, eine Nation des gemeinsamen Blutes ist das nicht. Und das stimmt natürlich auch. Ich denke, die Abgrenzung gegen außen ist schon etwas Identitätsstiftendes. Es ist leichter zu sagen, was der Schweizer nicht ist. Der Westschweizer ist kein Franzose, der Tessiner ist kein Italiener und der Deutschschweizer kein Deutscher. Es ist schon nicht ganz einfach, die Schweiz zu definieren. Die Sprache ist das eine. Vielleicht sind es wirklich auch die politischen Institutionen und die Traditionen oder auch die Unabhängigkeit, die nicht nur mythologisch ist, sondern real. Es sind eher so Werte, die uns irgendwie dann zusammenhalten.

König: Was wären denn die größten Schweizer Traumata?

Ziauddin: Hm. Ja, ich denke schon, auch trotzdem das Kleine. Es ist halt so, wenn man klein ist, wäre man gerne ab und zu groß. Und darum sind die Schweizer schon auch unglaublich stolz, wenn ihnen, das kommt ja gar nicht so selten vor, mal was Größeres gelingt oder eben, wenn sie sich für eine Fußball-WM qualifizieren oder wenn die Welt zu Gast ist etc., etc.

König: Aber Sie machen sich jetzt schon sehr klein. Mal abgesehen davon, dass es ja sehr viele, in Anführungsstrichen, "kleine" Länder gibt, nehmen wir Dänemark zum Beispiel. Ich glaube nicht, dass dort das Trauma des Kleinseins existiert.

Ziauddin: Ich glaube, es geht eher darum, eben so eine Mischung auch zwischen vielleicht durchaus auch Stolz, der auch ins Überhebliche kippen kann und manchmal Anflügen von Minderwertigkeitsgefühlen. Wir haben schon das Gefühl, dass wir ein sehr, sehr tolles Land sind, lassen uns dann aber entsprechend vielleicht auch sehr schnell verunsichern, wenn jemand von außen kommt und das verniedlicht oder sagt, ja, hübsch bei euch da in dieser Puppenstube.

König: Auch dieses ewige Reduzieren auf Käse, Geld und die Berge. Das ist für einen Schweizer nichts, womit er sich identifiziert?

Ziauddin: Nein, wirklich nicht. Nur schon darum nicht, weil, ich glaube, 75 Prozent der Schweizer leben in städtischen Zusammenhängen. Auch wenn das eher kleinteiliger ist als in Deutschland, ist es doch so, dass die allerwenigsten von uns jemals in einen Alphorn gepustet haben oder ein Kuh gemolken haben oder solche Dinge gemacht haben. Darum kann das mit der Zeit schon anstrengend werden, wobei es natürlich auch so ist, dass wir nicht unschuldig daran sind, weil wir auch stark vom Tourismus leben und durch dieses Naturzeug und Heidi-Blabla dann auch sehr pflegen.

König: Vielen Dank! Eine kleine Gebrauchsanweisung für die Schweizer. Ein Gespräch mit dem Journalisten Bruno Ziauddin. Sein Buch "Grüezi Gummihälse – Warum uns die Deutschen manchmal auf die Nerven gehen" ist im Rowohlt Taschenbuchverlag erschienen. Herr Ziauddin, vielen Dank!

Ziauddin: Ich danke Ihnen!