"Die schreckliche deutsche Sprache"

Manfred Pfister im Gespräch mit Ulrike Timm · 21.04.2010
Mark Twain besuchte auf seinen Europa-Reisen auch Heidelberg und Berlin. In "The Awful German Language" macht sich der Amerikaner über die Regeln und Ausnahmen des Deutschen lustig, erklärt Literaturwissenschaftler Manfred Pfister.
Ulrike Timm: Nirgends ist der Mensch so frei wie auf einem Mississippidampfer – das fand Samuel Langhorne Clemens schon als kleiner Junge, wurde Lotse und schipperte mehrere Jahre über den Fluss. Dann bog er umständehalber ab und wurde zum ersten amerikanischen Schriftsteller der Weltliteratur. Mark Twain – den Namen hat er sich selbst gegeben, nach der Zweifaden-Marke, mit der die Lotsen sich einer sicheren Wassertiefe versichern –, Mark Twain starb heute vor 100 Jahren, und auch seine beiden bekanntesten Helden, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, die schickte er den Mississippi herunter. Er selbst kam noch viel weiter, denn mehrfach reiste Mark Twain nach Europa, und der amerikanische Blick auf die alte Welt ist eine viel weniger bekannte Facette dieses Klassikers, aber eine sehr spannende. Und über Mark Twain als Reisenden wollen wir heute im Radiofeuilleton sprechen, gemeinsam mit Professor Manfred Pfister, der ist unser Gast. Guten Tag!

Manfred Pfister: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Pfister, die Abenteuergeschichten von Tom Sawyer und Huck Finn, die sind so südstaatenamerikanisch und zugleich auch wunderbar provinziell, dass man sich fragt: Was hat diesen Mark Twain nach Europa getrieben?

Pfister: Also, zunächst hat ihn nach Europa getrieben das, was viele Amerikaner in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufbrechen ließ, nach Europa zu gehen, sozusagen den Weg der Pilgrim Fathers rückgängig zu machen: das Bewusstsein, dass dieser Fortschritt, den sie in Amerika realisieren, gleichzeitig auch ein Verlust ist, ein Verlust an einer bestimmten Lebensart, der Verlust an bestimmten, sagen wir mal, aristokratischen Normen, an Kunst, an Kultur und so weiter. Also, da war so was wie eine Nostalgie da, die die Leute nach Europa geführt hat, in wachsenden Zahlen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und auch andere Schriftsteller, amerikanische, haben diesen Trip gemacht und darüber geschrieben. Ich glaube, das Originelle bei Mark Twain ist, dass er einen kritischen Blick wirft nicht nur auf Europa, sondern vor allem auch auf die Amerikaner, die nach Europa aufbrechen, was sie sich da erwarten und was sie beflügelt zu diesem Aufbruch. Die Komik, die er da inszeniert, ist immer eine zweischneidige: Da wird nicht nur Europa redikülisiert, es wird in derselben Weise Amerika und werden die Amerikaner lächerlich gemacht.

Timm: Dann lassen Sie uns doch mal anschauen, wie er sich dann die große europäische Geschichte, die europäische Kultur, die europäischen Kunstschätze angeschaut hat und wie er das gewertet hat als Amerikaner.

Pfister: Na ja, er hat es halt verglichen sozusagen mit dem, was es in Amerika gibt. Der kommt in Florenz an und schaut sich den Fluss an, den Arno, den von Dichtern besungenen Fluss und sagt, na ja, das könnte ein ganz schöner Fluss werden, wenn man mehr Wasser reinpumpen würde. Er misst eben dann diesen Arno am Mississippi und findet ihn zu klein, zu dürftig, ein Rinnsal im Vergleich zu dem, was er hat.

Timm: Er hatte aber auch ein bisschen einen merkwürdigen Blick auf europäische Kunstschätze. In Venedig sprach er zum Beispiel vom "nutzlosen Plunder", und das ist ja schon ein bisschen das Klischee des Amerikaners, der, sagen wir, Kaugummi kauend vor einer großen Kathedrale steht und sagt, verdammt viel Aufwand. Also, irgendwo ist er da auch ein Klischee-Amerikaner, oder?

Pfister: Bei ihm ist das nicht nur klischeehaft, sondern in gewisser Weise nimmt er einen Blick voraus, den – das wird Sie jetzt überraschen vielleicht – Walter Benjamin ausbuchstabiert hat: dass wir bei den großen Kulturschöpfungen immer auch sehen müssen, dass es Schöpfungen der Barbarei sind. Also, ohne der Menschen Ausbeutung gäbe es keinen Sankt Petersdom und keine Pyramiden. Und er sagt: Diese großen Kunstwerke sind nur möglich im Rahmen also einer feudalen Gesellschaft, einer hierarchischen Gesellschaft, die auf Ausbeutung beruht. Aus einer demokratischen Sicht verlieren sie ungeheuer an Prestige dann.

Timm: Er war mehrfach in Deutschland, darunter einen langen, verregneten Winter in Berlin. Warum hat er sich das angetan?

Pfister: Na ja, also – zunächst würde ich mal sagen, Mark Twain ist von allen amerikanischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts der, der am öftesten den Atlantik überquert hat, und damals ist man nicht geflogen, sondern die Seefahrt war mühsam und unangenehm und so weiter. Er hat es über 20 Mal auf sich genommen. Warum immer wieder? Zunächst mal hatte das ökonomische Gründe: Er hat zwar als Schriftsteller sehr gut verdient, aber gleichzeitig hat er ungeheuer viel Geld ausgegeben. Um seiner Familie einen entsprechenden Lebensunterhalt, einen Lebensstil gewähren zu können, musste er sozusagen nach Europa fahren.

Timm: Er hat ja sogar Deutsch gelernt. Wie weit ist er damit gekommen?

Pfister: Er war ja 1967 (Anm. d. Red.: gemeint ist 1867) zum ersten Mal längere Zeit in Deutschland, im Rahmen also einer Rundreise durch Europa, und da hat er dann auch Europa beschrieben, dieses "Innocence Abroad", da kommt Deutschland auch vor, aber noch marginaler. Zentraler wird seine Reise von 1978 (Anm. d. Red.: gemeint ist 1878), Deutschland, die Schweiz, Italien, wo er sich längere Zeit in Deutschland aufgehalten hat, hier vor allem in Heidelberg, und es war in Heidelberg, wo er sich ernsthaft um die deutsche Sprache bemüht hat, und er es bis zu einem gewissen Grad auch gelernt hat, das Deutsch. Zumindest konnte er etwa den "Struwwelpeter" ins Englische übersetzen. Und in diesem Buch, das heißt "A Tramp Abroad", beschreibt er diese Erfahrungen, und eines dieser Kapitel wurde eines seiner erfolgreichsten Reisebuchkapitel und das Kapitel heißt "The Awful German Language", die schreckliche deutsche Sprache, wo er beschreibt, was für ein Schock für ihn die deutsche Sprache mit ihren Regeln und Ausnahmen und Ausnahmen von den Regeln ist, wie grotesk es für ihn ist, dass es "das Mädchen" heißt, aber "der Kürbis", also dieses grammatikalische Geschlecht, das wir haben. Es ist ein köstlicher Text, einer der besten Texte, die je über das Lernen einer Fremdsprache geschrieben worden ist. Mit diesem Text hat er getingelt durch die Lande, das hat er über Jahrzehnte immer wieder vorgelesen, auch um Geld zu verdienen.

Timm: Also, vielleicht ist es gut, dass er nicht gut Deutsch sprach, so konnte er sich drüber lustig machen.

Pfister: Ja.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton, zum 100. Todestag von Mark Twain sprechen wir mit Manfred Pfister über Mark Twain als Reisenden. Herr Pfister, es gibt ein berühmtes Zitat von George Bernard Shaw über Mark Twain: "Er muss die Dinge so darstellen, dass die Leute, die ihn anderenfalls hängen würden, glauben, er mache nur Spaß." Für welche Gedanken hätte man ihn denn gehängt?

Pfister: Man hätte ihn gehängt zum Beispiel für seinen Antirassismus, der von einer Schärfe wurde, ja, in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts dann, die überall Anstoß erregt hat. Zum Beispiel, als er in Wien war – er war ja auch zwei Jahre in Wien –, da hatten ihn die Wiener als Juden genommen, weil sein Vorname Samuel ist, und die dachten, in Amerika sei es wie in Wien: Wenn jemand mit Vornamen Samuel heißt, dann ist er ein Jude. Und er wurde da angegriffen als Jude. In diesem Kontext: Seine Vorstellungen darüber, dass alle Rassen gleichwertig sind, die Schwarzen wie die Juden, war natürlich eine ungeheure Provokation, und die musste er im Wesentlichen also in Fiktionen, in komischen Erzählungen servieren. George Bernard Shaw, den Sie zitiert haben, das ist ihm in dieser Hinsicht ein Wesensverwandter. Drum hat er ihn auch so gut verstanden, dass man sozusagen lachend die Weisheit unter das Volk bringen muss.

Timm: Ganz kann ich Ihnen da trotzdem nicht folgen, Herr Pfister, denn wenn man sein berühmtestes Buch, "Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn", liest, da gehören die Sklaven ganz selbstverständlich dazu, und Nigger Jim, der schwarze Freund, der ist gutmütig, aber auch nicht besonders helle. Hat sich denn der Südstaatenblick von Mark Twain im Laufe seines Lebens gewandelt, dass er zu einem Kämpfer gegen den Rassismus wurde?

Pfister: Das ist sicher ein Entwicklungsprozess. Die Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist – also sozusagen am südlichen Mississippi –, war eine Sklavenhaltergesellschaft, in der die Sklavenhalterei völlig normal erschien. Auch seine Mutter, die also kein Unmensch war, der schien das also gottgewollt. Und er musste langsam erst so was wie eine Mitleidsethik entwickeln gegenüber den Sklaven, und dann in einem zweiten Schritt – den er eigentlich erst vollzogen hat, als er vom Mittleren Westen an die Ostküste ging und mit intellektuellen Kreisen zusammenkam – war dann ein immer methodisch reflektierterer, theoretisch reflektierterer Blick auf die Rassenfrage zu legen.

Timm: Das heißt, der Spötter hat gelernt?

Pfister: Der hat enorm gelernt, ja, und er hat enorm an Schärfe zugenommen. Aber es gibt einen Punkt der Schärfe, wo er dann sein Publikum verloren hat, muss man sagen. Es ist ja kein Zufall, dass wir den 100-jährigen Todestag eines Autors feiern, von dem kaum jemand Bücher der letzten 20 Lebensjahre kennt.

Timm: Sie, Herr Pfister, empfehlen ja auch gerne den anderen Mark Twain, und als solches ein gerade auf Deutsch neu herausgekommenes Buch "Knallkopf Wilson". Warum gerade das?

Pfister: Ich glaube, das ist ein Buch, das einem neu die Augen Mark Twain gegenüber öffnet. Mark Twain wurde ja immer sozusagen vor allem zunächst als Reiseschriftsteller, dann als Autor zweier Romane, die ja eher als Kinderbücher rezipiert wurden, so wurde er gesehen und nicht entschieden genug ernstgenommen, während dieses Buch – sowohl in der Raffiniertheit seiner literarischen Gemachtheit als auch in seiner sehr einschneidenden antirassistischen Einstellung – uns einen anderen Mark Twain eröffnet, einen Mark Twain, den er vielleicht aus einem gewissen Populismus heraus auch lange Zeit etwas bedeckt gehalten hat. Aber dann wird er zu einem sehr mutigen Mark Twain, etwa sein Angriff gegen den russischen Zaren, sein Angriff gegen Leopold II. – den fürchterlichsten aller Imperialisten – im Kongo und so weiter, gegen die Vereinigten Staaten und ihre Kolonialisierung der Philippinen und so weiter, und so fort. An dem Punkt hat er aber dann sein Publikum verloren.

Timm: Dieses Buch "Knallkopf Wilson", was Sie auch immer wieder besonders empfehlen – ist es ein Buch ... Getarnt ist es ja als Kriminalroman. Ist es ein Buch, das den Reisenden, den Satiriker und den Moralisten Mark Twain zusammenbringt?

Pfister: Das würde ich schon meinen, ja. Es bringt beides zusammen. Es ist ja schon ein reisend geschriebenes Buch, sehr charakteristisch. Angefangen hat er dieses Buch in einem deutschen Bad, Bad Nauheim, dann hat er es weitergeschrieben auf einem Hügel über Florenz, und er hat es fertiggemacht in Amerika. Also, da schreibt jemand nicht nur übers Reisen, sondern schreibt reisend, gleichzeitig, und so wird dieses Buch erst zu dem, was es am Schluss geworden ist. Im Roman selbst spielt die Reise eine große Rolle, da stoßen ja immer die Kulturen aufeinander. Der Titelheld, der Pudd'n'head Wilson, der Knallkopf Wilson, der kommt ja von der Ostküste an den Mississippi. Der geht den umgekehrten Weg, den Mark Twain gegangen ist, der vom Mississippi an die Ostküste gegangen ist, und wird von diesen einfachen Leuten dieses kleinen Marktfleckens völlig missverstanden.

Timm: Und wenn Sie jetzt noch keine Lust haben, Mark Twain zu lesen, auch jenseits von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, dann können wir Ihnen auch nicht helfen. Mein Dank gilt an Manfred Pfister, den Literaturwissenschaftler mit Spezialgebiet Reiseberichte. Wir sprachen über den 100. Todestag von Mark Twain.
Mehr zum Thema