Die Schönheit der Abschweifung

11.11.2013
Er ist der Leitstern der brasilianischen Literatur: Joaquim Maria Machado de Assis. Er wurde 1839 in Rio de Janeiro geboren - seine Gedichte und Romane gelten als Fundament einer eigenständigen brasilianischen Literatur. Der Roman "Dom Casmurro" ist jetzt neu bei Manesse erschienen.
"Dom Casmurro" heißt das Buch nach seiner Hauptfigur, "Herr Griesgram". Dabei sind die Schilderungen dieses älteren Herren alles andere als miesepetrig, sondern ganz und gar leicht, ja schelmisch schon, und in ihrer ironischen Brechung höchst modern - so modern wie der "Don Quijote" oder wie "Zenos Gewissen" von Italo Svevo. Und auch den klassischen Rang teilt sich dieses 1899 erstmals erschienene Werk mit seinen Buch-Vettern.

Dass "Dom Casmurro" erst einmal so beschwingt daherkommt, mag an seinem Gegenstand liegen: Der eigenen Jugend. Sie ist zwar entschwunden, aber golden leuchtet sie doch in der Erinnerung weiter, die Herr Griesgram zu Papier bringt. Und auch dem Leser steigt der Duft des Gartens in die Nase, in dem sich der einst Fünfzehnjährige mit der Nachbartochter Capitu trifft, erst in aller Unschuld, dann in aller Heimlichkeit, denn die beiden sind verliebt. Doch Dom Casmurro, der zu diesem Zeitpunkt für alle schlicht Bentinho heißt, soll Priester werden, das hatte seine Mutter, eine reiche Witwe, Gott versprochen, als Dank für die glückliche Geburt.

Manch absurder Auftritt
Aber wie lässt sich dieses Unglück abwenden? Über dieser Frage gehen die ersten zweihundert Seiten hin; Onkel Cosme tritt da auf, ein schwergewichtiger Würfelspieler, man lernt den theatralischen Schwiegervater in spe kennen, und José Dias, das Faktotum des Haushalts der reichen Witwe, hat so manchen absurden Auftritt.

Es ist, wie bei Henry James, eine Welt, in der es außer den zwischenmenschlichen Fragen keine größeren Probleme gibt. Die Arbeit wird von Dienern, beziehungsweise Sklaven erledigt, Geld ist kein Thema. Nur die Lepra hat einen kurzen, gruseligen Auftritt.

Gleichwohl könnte das Unglück, das sich am Horizont abzeichnet nicht größer sein. Als sich Capitu und Bentinho endlich in die Arme schließen, als alles zum besten geordnet scheint, als sogar nach langem Warten ein Sohn sich einstellt, ahnt der Leser, dass er sich doch nicht in der besten aller Welten befindet. Das Gift der Eifersucht breitet sich in Bentinho aus und verwandelt ihn schließlich in Dom Casmurro. Als wolle er dieses Schicksal nachträglich abwenden, führt sein erzählerischer Weg auf schlingernden Pfaden zum Ziel.

Haarsträubende Neuübersetzung
Wie schon in den "Nachträglichen Memoiren des Bras Cubas" erweist sich Machado de Assis als Meister der Abschweifung, immer wieder weiß er die ein oder andere Enthüllung geschickt auf das nächste oder übernächste Kapitel zu verschieben.

So wie Dom Casmurro die Schönheit seiner Capitu festhalten möchte, um am Ende doch zu scheitern, möchte man dieses Buch ewig weiter lesen - wenn auch nicht unbedingt in der mitunter haarsträubenden Neuübersetzung, die nun im Manesse Verlag vorliegt, sondern in der, die zuerst bei Rütten und Loening in der DDR, dann bei Suhrkamp erschien. Sie ist heute leider nur noch antiquarisch erhältlich.

Besprochen von Tobias Lehmkuhl

Joaquim Maria Machado de Assis: Dom Casmurro
Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis
Manesse Verlag, Zürich 2013
446 Seiten, 22,95 Euro
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