Abgeschottet und doch Zielscheibe
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Ende Dezember verletzte ein Angreifer fünf Personen auf einer Chanukka-Feier im New Yorker Vorort Monsey. Dort leben viele Satmarer Juden, die jeden Kontakt zur Außenwelt meiden. Die Schriftstellerin Deborah Feldman kennt diese Gemeinde gut.
Ausgerechnet in der Stadt, die niemals schläft, scheint mancherorts die Zeit stehengeblieben zu sein. Im Stadtteil Williamsburg zum Beispiel, wo die Satmarer Juden leben. Und auch in Monsey, in dem Vorort von New York, wohin die streng Gläubigen auswichen, als ihnen Williamsburg zu eng wurde.
Die Satmarer, eine Gruppe chassidischer, ultraorthodoxer Juden, stemmen sich gegen jede Assimilierung. Diejenigen, die dem Holocaust entkommen waren, überwanden einmal, für die Auswanderung, ihre tiefe Abneigung gegen Veränderungen. Sie verließen das rumänisch-ungarische Grenzgebiet und gingen in die USA, wo sie – abermals abgeschottet – eine Parallelwelt errichteten.
Die kinderreichen Familien brauchen Platz
Auf mindestens 300.000 wird ihre Zahl in New York geschätzt, es könnten weitaus mehr sein, denn die Geburtenrate ist extrem hoch, wie Deborah Feldman aus eigenem Erleben weiß. Ich treffe die junge Schriftstellerin in Berlin in einem Café. Die 33-Jährige stammt aus der Satmarer Gemeinde in Williamsburg.
Sie erzählt: "Man heiratet ja sehr früh. Ich war 17, als ich heiratete. Man darf keine Verhütungsmethoden einsetzen. Das heißt, man fängt an, sehr früh Kinder zu bekommen. Man kriegt dann sozusagen, bis man nicht mehr fruchtbar ist, jedes Jahr, jedes zweite Jahr ein Kind. Das heißt, es gibt Familien mit 10 bis 20 Kindern. Und da die Gemeinden woanders auch an ihre Grenzen gestoßen sind, war Monsey wirklich der Ort, wo die Leute dachten, hier gibt es eine Menge Platz. Hier können wir riesige Gebäude bauen und alle irgendwie hier unterbringen. Und dann haben sie mittlerweile das Gesicht dieser Gegend vollkommen umgewandelt."
Konflikte mit den Nachbarn wegen des Lebensstils
Männer in langen schwarzen Mänteln und mit Schläfenlocken bestimmen immer mehr das Straßenbild von Monsey, wo an Chanukka der Attentäter die Gäste eines Rabbis mit einer Machete angriff. Der Überfall wurde als sogenanntes Hassdelikt eingestuft. "Wenn jemand angegriffen wird, weil er Jude ist, nicht weil er etwas persönlich gemacht hat, ist es tatsächlich ein hate crime und kann und soll als solches verfolgt werden", sagt Deborah Feldman.
Die New York Times berichtete, dass 2019 die Hälfte der rund 400 Hassdelikte in der Metropole antisemitisch war. Angriffe gegen Juden seien keineswegs ausschließlich religiös motiviert, glaubt Deborah Feldman:
"Der wachsende Antisemitismus richtet sich eher gegen Juden, die in den Verschwörungen eine Rolle spielen. Das sind oft Juden, die sehr integriert sind, an denen man nicht erkennen kann, dass sie Juden sind. Aber diese religiösen Gemeinden, die sehr arm und zurückgezogen leben, die haben eher ein Problem auf der lokalen Ebene. Dass sie sich nicht gut mit ihren Nachbarn verstehen, was ja häufig der Fall ist bei Minderheiten, die ganz andere Lebensstile führen als der Mainstream."
Kampf um knappe Ressourcen
Unklar ist, ob der Attentäter von Monsey Verbindungen zu afroamerikanischen islamistischen oder christlich-fundamentalistischen Gruppierungen hat. Deborah Feldman musste schon in ihrer Kindheit Gewalt zwischen Schwarzen und Juden bei den sogenannten Riots in Williamsburg mitansehen. Die hatten noch andere Ursachen.
"Es ging sehr blutig zu und ist eine lange Geschichte von Minderheiten, die gegeneinander ausgespielt wurden, die um Ressourcen kämpften", so Feldman. "Und das bedeutet: Ja, da kommt der Feind von oben, aber untereinander hat man auch wenig Platz und wenig Ressourcen."
Auch in dem New Yorker Vorort Monsey sind die Spannungen aus ganz weltlichen Gründen entstanden, erinnert sich Deborah Feldman, die als 23-Jährige aus der strenggläubigen jüdischen Community floh. Zwischen den üblichen Einfamilienhäuser in Monsey hatten streng religiöse Juden mehrgeschossige Wohnhäuser bauen lassen und damit den Unmut der anderen Nachbarn auf sich gezogen. Den hat auch sie als jung verheiratete Mutter mit Kind dort zu spüren bekommen:
"Nachbarn, die vorbeigefahren sind, haben aus dem Fenster gespuckt, irgendetwas geschrien. Dann hab ich mich bei der Polizei gemeldet, aber die haben natürlich nichts gemacht, weil die Polizei uns auch hasste und weil sie ja in unserer Gegend wohnten und auch darunter litten."
Entscheidung gegen die Thora-Schule
Ihren Ausstieg aus der streng geregelten und ärmlichen Enge beschrieb die damals 23-Jährige in ihrem Bestseller "Unorthodox". Es folgte das Buch "Überbitten", in dem sie ihre Suche nach einem neuen Platz im Leben schilderte, der 2014 schließlich Deutschland wurde. Sie ließ sich – für chassidische Frauen undenkbar – scheiden.
Als Schriftstellerin hatte sie auf Anhieb Erfolg. Im Moment arbeitet sie an einem neuen Roman, am liebsten im Café. Ihr 14-jähriger Sohn besuchte genau an Chanukka in New York seinen Vater. Als geschiedener Mann passte der nicht mehr in die ultraorthodoxe Gemeinde, auch er verließ sie. Mittlerweile verstehen sich die beiden als Eltern gut, waren sich einig, gegen den Willen der Gemeinde ihren Sohn impfen zu lassen, als in einigen jüdischen Vierteln Anfang 2019 eine Masernepidemie ausbrach.
Auch dass der Sohn in einer weltlichen Schule lernen soll, war klar – außerhalb, nicht in der Gemeinde, erklärt Feldman: "Das hätte bedeutet, dass er von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags Thora studiert hätte, auf Hebräisch. Und sonst nichts. Und das mit dem öffentlichen Geld. Die chassidische Gemeinde schickt die Kinder nicht in die öffentlichen Schulen, trotzdem kriegen sie aber Geld für ihre Privatschulen. Und zwar geht fast das ganze Geld dahin und dann finden die Nachbarn, dass die Schulen, wo ihre Kinder hingehen, kein Geld mehr bekommen."
Den Schaden haben die Kinder
Nichtjüdische Schulen blieben in den Vierteln unterfinanziert zurück, hätten zu wenige Lehrer. Ein krasses Beispiel, wie die Bevorzugung der einen Minderheit andere benachteiligt. Die Politik stelle sich taub, wolle die Rabbiner nicht verprellen, weil die ihnen die Wählerstimmen der ganzen Gemeinden sicherten. Auf der Strecke bleiben die Kinder, sagt Deborah Feldmann, für die ihr Bildungshunger der wichtigste Grund für ihren Ausstieg war.
Sie gehört zu den wenigen, die sowohl diese streng abgeschottete jüdische Welt mitten in New York als auch das Leben außerhalb kennt. "Ich habe zum Beispiel entweder eine Perücke getragen, oder eine Art Tuch um meinen Kopf gebunden", erinnert sie sich. "Und ich hatte dann immer so lange Röcke an und dicke Strumpfhosen, und wir haben keinen Austausch mit den Nachbarn gesucht. Und das fällt in solchen Orten sehr auf. Die sind ja wie Dörfer da, da hält man zusammen. Und wir waren neu da und wir sind rasant gewachsen. Und plötzlich merken diese Leute, die da 50 Jahre lang in Ruhe gelebt haben, diese Leute wollen nichts mit uns zu tun haben, aber holen unsere Ressourcen weg. Aber trotzdem hat man mir beigebracht in der Gemeinde: Alle Nichtjuden sind Antisemiten. Mit dieser Wahrheit, mit diesen Floskeln, bin ich aufgewachsen. Und deshalb mussten wir uns um ihre Bedürfnisse und Interessen gar nicht kümmern."
Kein Davidstern um den Hals
Aufrufe von jüdischen Organisationen, sich gegen den zunehmenden Antisemitismus jetzt erst recht zu erkennen zu geben, bringen sie, die mittlerweile auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, in Rage.
"Das ist eine komische Frage, die immer nur an die Juden gerichtet ist. Versteckst du dich oder lässt du dich erkennen? Es gibt nichts dazwischen. Was soll ich machen? Den gelben Stern? Sollen wir uns identifizieren mit dem gelben Stern? Ich kann keinen Davidstern um den Hals tragen, weil der Davidstern für mich nur das ist, was auf der israelischen Fahne ist. Ich bin aber keine Israelin. Wenn ich jetzt keinen Hashtag auf mich selber klebe, dann habe ich mich versteckt? Ich verstecke mich null!"
David Niederman, Vorstand der Vereinten jüdischen Organisationen von Williamsburg, kritisierte nach dem Angriff auf die Chanukka-Feier Verweise auf Konflikte durch Wohnungsmangel und Bevölkerungswachstum. Wenn es solche Spannungen gebe, solle man sich an einen Tisch setzen, nicht losziehen und Menschen ermorden. Dahinter stehe purer Hass. Am Donnerstag wurde in den USA Anklage gegen den mutmaßlichen Attentäter von Monsey erhoben: Er muss sich wegen Hassverbrechen vor Gericht verantworten.