Die Rückkehr des Rüpelkaspers

Von Stefan Keim · 29.08.2009
"Tri Tra Trullala, Kasperle ist wieder da." Harmlose Kinderunterhaltung vermuten die meisten, wenn die Puppe mit der roten Zipfelmütze Krokodile mit der Klatsche verprügelt. Doch Kasper hat auch ganz andere Seiten, rüpelhafte, kritische, anarchische. "Kasper reloaded" heißt das Motto des Figurentheaterfestivals Fidena in Bochum.
Afghanistan, heute. Zwei Touristen haben eine Kameltour gebucht. Einer von ihnen, der Holländer Emil, ist verschwunden. Sein Freund macht sich auf die Suche, zusammen mit dem Eigentümer des Kamels. Wie eine skurrile Gestalt aus einem Karl-May-Roman zetert der Araber in einem sich ständig steigernden Wortschwall. Nicht um den Touristen sorgt er sich, sondern um sein Kamel, das alles für ihn bedeute. Die beruhigend gemeinten Worte, Emil könne mit Tieren umgehen, er sei Metzger von Beruf, lösen Entsetzen aus. Kamelmörder, schreit der Araber, und Rache!

"Fogive me, humble man, to have thoughts of revenge! About camel murderers! And wanting to become a suicide bomber!” "

Die Verzweiflung gebiert Selbstmordattentäter. Plötzlich bekommt die groteske Szene einen bitteren, kritischen Unterton. Solche Gratwanderungen mit tiefschwarzem Humor sind typisch für den Australier Neville Tranter, einen der bekanntesten Figurentheatermacher der Welt. Bei der Bochumer Fidena bringt er sein neues Stück zur Uraufführung: "Punch and Judy in Afghanistan – When East meets West, who will be laughing in the End?" Wenn der Osten auf den Westen trifft – wer wird am Ende lachen?

Die britische Spielart des Kaspers besteht aus zwei Personen, Punch und Judy. Die beiden vertreten einen derben, politisch völlig unkorrekten Humor. Wie Neville Tranter, der sich erstmals mit den traditionsreichen Puppencharakteren auseinander setzt. Angeregt hat ihn dazu Annete Dabs, die Leiterin des Festivals Fidena. In diesem Jahr zeigt sie Variationen über die Kasperfigur aus verschiedenen Ländern unter dem Titel "Kasper reloaded".

""Kasper reloaded bezieht sich auf die Auferstehung des Kaspers, der nie tot ist. Der Kasper stirbt ja nie. Aber ist immer mal wieder irgendwo in der Schublade verschwunden, um dann unversehens wieder auf der Bühne zu landen."

Es ist der ursprüngliche, der anarchische Kasper, der nun in Bochum seine Auferstehung erlebt. Der Kasper, wie er im Schatten Vesuvs entstand, um die Angst vor dem Vulkan wegzulachen. In Italien heißt er Pulcinella, in Frankreich Polichinelle. In Deutschland gab es lange Zeit nur den braven, guten Kasper, der Räuber fängt und höchstens Krokodile verprügelt. Das anarchische Potenzial der Figur vermittelte lange Zeit bloß das Plakat einer Tourneetheaterbühne. Es zeigte eine Puppe mit irrem Blick und darüber den Titel: "Der Kasper kommt im Theaterzelt". Doch der Humor war unfreiwillig, inzwischen wurde der Text korrigiert. Der harmlose, familientaugliche Kasper entstand erst vor gut 100 Jahren, erzählt Annette Dabs.

"Es ist so gewesen, dass Ende des 19. Jahrhunderts in dieser reformpädagogischen Entwicklung – das Stichwort wäre Wandervogel -, da ist es angefangen, dass man den Kasper nicht mehr hoffähig fand. Er war zu versoffen, er hatte einen Schmerbauch und war überhaupt zu rüpelhaft. Zu Zeiten des Nationalsozialismus wurde der Kasper absolut domestiziert. Das heißt, er war auf einmal abstinent, er wurde zu didaktischen Zwecken missbraucht. Das haben wir noch in den Ausklängen, wenn man an den Verkehrskasper denkt oder an den Mundhygienekasper. Aber der ursprüngliche Kasper war ein richtig anarchischer Berserker."

Ein Rüpel mit Schmerbauch – da kommt einem unwillkürlich Horst Schlämmer in den Sinn, die Kabarett-Kunstfigur von Hape Kerkeling, die mit grunzender Schnappatmung Kanzler werden will und die Kinokassen füllt.

"Das ist exakt der Kasper. Der ist schrecklich anzusehen. Der macht Dinge, wo man sich für schämt, die man selber nicht tun würde. Aber jeder hat ihn lieb, und jeder ist begeistert, wenn er auftritt."

Horst Schlämmer tritt nicht auf der Fidena auf. Doch auch hier dreht sich nicht alles nur um Puppen und Figuren. Die russische Gruppe AKHE zeigt Performances, die viel mit absurden Laboratorien zu tun haben, in denen es knallt, dampft und zischt. Scheinbar tote Gegenstände sind hier ebenso lebendig wie die Körper der Schauspieler. AKHE bringt Petruschka, den russischen Kasper auf die Bühne, unter dem Titel "Half of Black" – Die Mitte des Schwarzen. Die meisten Stücke sind für Erwachsene gedacht, die Fidena zeigt aber auch Figurentheater für Kinder. Zum Beispiel aus der Türkei, Kasper heißt hier Karagöz.

Auch Karagöz ist kein pädagogisch einwandfreier Held. Im Gegenteil, er liebt es, seinen vornehmen Nachbarn Hacivat zu verprügeln. Und manchmal schmeißt er auch Kinder, die ihn nerven, einfach aus dem Fenster. Solche Szenen wirken allerdings nicht besonders brutal, denn Karagözstücke sind buntes Schattentheater. Türkische Puppenspieler wie Cengiz Özek, der bei der Fidena zu Gast ist, erzählen ihre Geschichten ohne Requisiten und Bühnenbild, nur über die Puppen, ihre zwischen Türkisch und einem Fantasiegeplapper wechselnden Sprache und die Musik. Cengiz Özek wurzelt in der traditionellen Theaterform, stellt seine Figuren wie früher aus Kamelleder her, schreibt aber auf dieser Basis moderne Stücke.

Der Kasper von heute, wie ihn das Plakat der Fidena zeigt, hat Nägel im Schädel, er ist ein Holzkopf. Dabei umgibt ihn eine Gloriole wie ein Heiligenschein. Sein Gesicht liegt zur Hälfte im Hellen, zur Hälfte im Schatten, als hätte ihn sein Namensvetter Caspar David Friedrich gemalt. Er ist frech, grob, manchmal vulgär, zuweilen sogar gewalttätig. Und hat mehr mit den Simpsons oder Tom und Jerry zu tun als mit den niedlichen Kinderbüchern von Otfried Preußler. Trotzdem, sagt Fidena-Leiterin Annette Dabs, müssen Eltern keine Angst haben, wenn ihre Kinder ins Kasperletheater gehen wollen.

"Instinktiv weiß der Kasper immer genau, was er machen darf und was nicht. Wie weit er schocken kann und wo es aufhört. Und hier auf der Fidena wird diese Grenze genau ausgelotet."

Service:
Die Fidenaläuft vom 28. August bis 4. September an verschiedenen Spielorten in Bochum und Herne. Karten: 0234 – 47720.
Vom 11. – 21. September sind viele Aufführungen in Linz beim Festival "Wo? Wenn nicht alle da!" zu sehen.